„Da bekomme ich eine rebellische Sehnsucht nach etwas Altmodischem.“

Mittwoch, 26. Oktober 2016

Der Wiener Philosoph Robert Pfaller demonstriert in seinen Büchern, wie unterhaltsam philosophisches Denken sein kann. Unter anderem untersuchte er, wie sehr wir die Welt der Träume, Wünsche und Illusionen für unser Alltagsleben benötigen. Andere, „neue“ Welten sind dem Philosophen also durchaus nicht fern. Silvana Steinbacher hat mit Robert Pfaller gesprochen.


Herr Professor Pfaller, der neue Intendant des Linzer Landestheaters Herrmann Schneider startet seine erste Spielzeit an diesem Haus unter dem Motto NEUE WELT. Dieses Motto löst sich unter anderem mit Shakespeares Der Sturm, der Oper Solaris oder Brechts Schauspiel Das Leben des Galilei ein, um nur einige zu nennen. Was bedeutet für Sie als Philosoph der Begriff  Neue Welt?

Zunächst muss ich da an Aldous Huxleys "Brave New World" denken, ein Szenario von totaler Überwachung, das heute oft erschreckend wirklich geworden scheint. Da bekomme ich eine rebellische Sehnsucht nach etwas Altmodischem. Dann fällt mir ein, dass der Begriff "Neue Welt" eigentlich selbst etwas charmant Altmodisches an sich hat: er stammt aus einer Zeit, in der die Neue Welt in Übersee nicht nur etwas Exotisches, neugierig Machendes, sondern auch mit politischen Hoffnungen Verbundenes war. Man muss heute doch schon eine Weile zurückdenken, um sich an politische Hoffnungen zu erinnern.

Sehen Sie derzeit Anzeichen eines Aufbruchs, einer Wende? 

Ja. Seit zum Beispiel der Internationale Währungsfonds endlich eingestanden hat, dass die von ihm selbst sowie von seinen politischen Handlangern verfolgte Sparpolitik ein verheerender Fehler war und seit Christian Kern als erster sozialdemokratischer Politiker seit langer Zeit wieder den Mut hatte, von einem "New Deal" zu sprechen, glaube ich, dass Dinge wieder besser werden könnten.

Ich möchte ein Zitat aus Ihrem Buch Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere herausgreifen: „Wenn wir keine Phantasie mehr haben, aus der wir erleichtert ins Leben flüchten können, gerät uns das Leben selbst zu einem ausweglosen Albtraum.“  Wozu benötigen wir diese zweite Welt für unser Leben so dringend?

Mir scheint, dass wir derzeit umgeben sind von Ermutigungen wie "Lebe Deinen Traum" oder "Sei ganz Du selbst". Ich glaube, solche Zurufe wirken in Wahrheit aber entmutigend und vor allem stressend. Die Leute entwickeln dann gewaltige, und teilweise widersprüchliche Erwartungen, und können dann nur noch enttäuscht werden - sofern sie es überhaupt noch fertigbringen, irgendetwas zu begehren. Die Liebespartnerin soll sexy wie ein Filmstar, aber zugleich treu und verlässlich sein. Enorm viel Zeit und Fürsorge für die eigenen Kinder sowie eine steile Berufskarriere sollen sich zugleich in einem Leben ausgehen - dabei geht sich nüchtern betrachtet meist nicht einmal ein Segelboot neben der Karriere aus. Über den Lebenspartner will man alles wissen, aber zugleich soll er ein Geheimnis behalten und begehrenswert bleiben etc. Es ist kein Wunder, dass unter solchen Anforderungen die Fähigkeit zu wünschen, zusammenbricht und wir in einer Gesellschaft der "Müdigkeit" landen, das heißt nach Alain Ehrenberg und Byung-Chul Han: einer depressiven Situation, in der unser Wollen nicht mehr mit dem Dürfen Schritt hält.

Demgegenüber wollte ich denkbar machen, dass der Traum nicht der Masterplan des Lebens ist, sondern vielmehr ein Teil des Lebens - etwas, das nicht unbedingt dazu da ist, Wirklichkeit zu werden, sondern eher dazu, eine Wirklichkeit zu stützen. Wenn der Kellner nicht davon träumen kann, ein Poet zu sein, und wenn die Taxifahrerin nicht phantasiert, Ballerina zu werden, dann haben sie vielleicht nichts mehr, was es ihnen ermöglicht, einigermaßen froh ihrem Brotberuf nachzugehen. Ich kenne übrigens auch Ballerinas, die davon träumen, Taxifahrerinnen zu sein.

Die postmoderne Propaganda lullt die Leute - in allen Bereichen, sogar hinsichtlich des Geschlechts - in die infantile Phantasie ein, sie bräuchten im Leben nicht zu wählen; sie könnten alles zugleich haben, Traum und Leben sozusagen, und das wäre dann ein Riesenglück. Aber was wir dann bekommen, ist doch immer nur ein fauler Kompromiss, eine Art Kaffee ohne Koffein, der meist enttäuschender als jede der Alternativen ist, die wir hätten wählen können. Ein Schüler des Sokrates fragte seinen Meister einmal, ob er Philosoph werden oder doch lieber heiraten solle. Sokrates soll geantwortet haben: "Mach, was du willst. Du wirst so oder so unglücklich werden." Ich lese das so: er wollte ihm die zerstörerische Phantasie vom Riesenglück austreiben und ihn zum Lachen bringen. Nur so konnte der Schüler wohl im Leben froh werden: entweder als Philosoph, der träumt, Ehemann zu sein, oder umgekehrt; der aber diesen Traum als Stütze seines Lebens begreift - sozusagen als dessen verführerischen Hauch -; und nicht als Beweis dafür, dass sein Leben verfehlt wäre. Leider ist uns in der zartbesaiteten Postmoderne dieser schwarze, befreiende Humor des Sokrates abhandengekommen.

Fördert denn  unsere Gesellschaft, unser Bildungssystem Ihrer Meinung nach die Phantasie?

Diesen Eindruck habe ich nicht. Die Entwicklung scheint mir in die entgegengesetzte Richtung zu laufen: den Mittelschülern nimmt man für die Matura die Literatur weg; und den Studenten schreibt man alles vor, was sie studieren sollen, und überfrachtet sie so sehr mit Vorschriften, dass 70 Prozent ihrer Aufmerksamkeit nur für die Formalien ihres Studiums draufgehen.

Inwiefern benötigen wir, um wieder „erleichtert ins Leben flüchten zu können“, auch die Welt des Theaters, die uns im besten Fall neue Räume eröffnet?

Das Theater hat da seit einigen Jahren, wie mir scheint, tatsächlich wieder Auftrieb als Phantasieraum der Gesellschaft - nachdem der Film diese Funktion eigentümlich abgegeben hat.

Der Intendant des Linzer Landestheaters stellte in einem Interview fest „Gerade in einer Zeit wie heute, in der einem jegliche Genüsse ausgeredet werden, tut ein bisschen Hedonismus gut.“
Zum Stichwort Hedonismus möchte ich zwei Produktionen dieser Spielzeit nennen. Mit Falstaff wurde diese Spielzeit eröffnet. Im Jänner nächsten Jahres steht Don Giovanni auf dem Programm. In Ihren Büchern bedauern Sie den Verlust des epikureischen Lebens und die „Verbotskultur“, durch die sich Menschen Ihre Genüsse verwehren ließen, wenn ich Sie richtig interpretiere. Wie hat sich dieses Phänomen in unserer Konsumgesellschaft entwickeln können?


Die neoliberale Politik hat sich eine alte emanzipatorische Forderung zu eigen gemacht, aber sie auf perfide Weise verdreht. Die emanzipatorische Forderung lautete: Der Staat muss alle, aber vor allem auch die Schwächsten fördern. Die neoliberale Politik hat das wie folgt verdreht: Der Staat muss nur die Schwächsten schützen - und zwar vorwiegend durch Verbote; weil das angeblich weniger kostet. Die berechtigte Hoffnung der Leute, vom Staat vor den großen Bedrohungen geschützt zu werden - zum Beispiel vor den deregulierten Finanzmärkten, deren Verwerfungen Millionen Menschen in Europa arbeits- und obdachlos gemacht haben -; diese Hoffnung wurde ersatzbefriedigt durch kleine, unbedeutende Verbote und betuliche Warnhinweise für angeblich ganz besonders Schwache. Weil die Sorge und die Gunst des Staates immer nur auf die Allerschwächsten gerichtet waren, wollten alle plötzlich gern die Allerschwächsten sein und nahmen alle anderen als Konkurrenten und Bedrohung im "Wettbewerb der Opfer" wahr. Dies hatte eine gewaltige Entsolidarisierung in der Gesellschaft zur Folge. Und die Lustfeindlichkeit ist eine Folge der Entsolidarisierung: denn die Genüsse benötigen Geselligkeit, um als lustvoll erlebt werden zu können. Sonst wirken sie schnell eklig. Die wenigsten wollen alleine Alkohol trinken; manche möchten nicht einmal essen, wenn sie alleine sind.

Sind wir auf dem Weg dazu uns entmündigen zu lassen, um es sehr überspitzt zu formulieren?

Ja. Die neoliberalen Pseudopolitiken haben uns suggeriert, dass wir alle kleine Hascherln sind, die bei einem bisschen Tabakrauch oder einem bösen Wort oder auch beim bloßen Gedanken an den Tod schon tot umfallen könnten. Dass wir erwachsene Menschen sind, die in solchen Fragen durchaus auf sich selbst aufpassen können und die auch in der Lage sind, auf ihre Selbsterhaltung mal kurz freudig zu pfeifen, wurde dabei konsequent negiert. Wir brauchen keine Politik, die uns zuruft: "Wir tun alles, damit ihr nicht sterbt." Wir brauchen eine, die sagt: "Erstens sterbt ihr alle sowieso. Das können wir gar nicht verhindern. Und zweitens: sehen wir zu, dass die Zeit davor ein Leben genannt werden kann. Dazu können wir einiges tun." So würde man mit mündigen Bürgern sprechen.

Ich möchte unser Gespräch mit der Kunst beenden, es besteht, so erscheint es mir, zunehmend die Tendenz den Erfolg eines künstlerischen Projekts an den Publikumszahlen zu messen. Wie sehr haben denn noch Projekte abseits des Mainstream eine Chance,  fördert man damit nicht zwangsläufig eine Eventkultur?

Das Messen an Zahlen ist selbst ein neoliberales Symptom: es zeugt von der Entscheidungsschwäche der Politik und von der Überlassung der Entscheidungen an eine sachfremde Bürokratie, die nur nach zweifelhaften Zahlen vorgeht, weil sie von allem anderen nichts versteht. Selbstbewusste Kulturpolitik setzt Prioritäten, sie steuert und fördert dementsprechend, anstatt unkritisch auf Zahlen zu starren.

Und ganz zum Schluss möchte ich noch eine private Frage an Sie richten. Welche Bedeutung hat das Theater in Ihrem Leben?

Ich war in den 70er Jahren ein leidenschaftlicher Theaterbesucher, wurde dann vorwiegend ein Kinogeher und sah mir auf dem Theater lange Zeit nur so spezielle Dinge wie Kurt Palms "Sparverein Die Unzertrennlichen" oder den unvergesslichen "Einzug des Rokoko ins Inselreich der Huzzis" von Karner/Mattuschka/Poschauko an. Seit einigen Jahren kehre ich wieder mehr zum Theater zurück und versuche alles von Marthaler oder Pollesch zu sehen, was in meiner Nähe gezeigt wird, oder auch einige der tollen Tanztheater-Produktionen beim Wiener Impulstanz Festival. Die Fragen der Komödie haben für mich eine sehr entscheidende Rolle gespielt - man kann daraus, wie ich in meinem Buch "Wofür es sich zu leben lohnt" zu zeigen versuchte, einiges über den Materialismus in der Philosophie lernen. Manches davon versuche ich seit kurzem auch selbst auf der Bühne umzusetzen - in meiner Show "Meilensteine der Philosophie. Die großen Knaller zu Gast bei Robert Pfaller" im Wiener Rabenhoftheater.

Robert Pfaller
Der Philosoph Robert Pfaller war von 2009 bis 2014 Ordinarius für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien, heute lehrt er an der Kunstuniversität Linz. Pfaller hat sich durch zahlreiche
Bücher einen Namen gemacht, etwa durch Zweite Welten. Und andere Lebenselexiere, 2012, und Kurze Sätze über gutes Leben, 2015. Auch zur Bühne hat Robert Pfaller eine enge Beziehung. In seiner Show Meilensteine der Philosophie unterhaltsam philosophische Größen nahe.