Nachlese Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft am Landestheater Linz
Montag, 27. April 2015
Unter dem Titel „Was alle angeht. Oder: Was ist (heute) populär?“ fand vom 29. Jänner. – 1. Februar in Linz die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft (dg) statt. Gastgeber war heuer das Landestheater Linz, Kooperationspartner das Ars Electronica Center und die Kunstuniversität Linz. Die Tagung ist jetzt dokumentiert im Heft dramaturgie 2/2015 – erhältlich auf www.dramaturgische-gesellschaft.de. Intendant Rainer Mennicken konnte über 200 Dramaturgen, Regisseure und Performer sowie Referenten aus der Theaterpraxis, der Philosophie und den Kulturwissenschaften im Musiktheater begrüßen. Darüber, dass die Gegenüberstellung verschiedener Kategorien wie „Pop“ und „Hochkultur“, die ursprünglich auf soziale Abgrenzungsversuche zurückzuführen ist, heute unbrauchbar ist, gab es schnell Einigkeit – wie auch über die Tatsache, dass der Begriff „Hochkultur“ heute zunehmend als Kampfbegriff gegen die öffentlich geförderten Theater verwendet wird. Der Philosoph Robert Pfaller schlug daher eine andere Unterscheidung vor: „Pop“ (auf die Gegenwart bezogen) versus „Klassik“ (auf Langlebigkeit hin angelegt).
Hier kann man Robert Pfaller´s Rede nachlesen:
(Transkription des mündlichen Vortrags, leicht gekürzt)
Ich freue mich sehr bei Ihnen zu Gast zu sein, noch dazu, dass ich jetzt eben mit dem Heimvorteil zu Ihnen sprechen kann aus meiner zweiten Heimatstadt Linz.
Der Titel Archetypen heute, wurde mir von Ihnen vorgeschlagen, ich bin außerordentlich dankbar und froh darüber, über Archetypen hätte ich nämlich niemals gesprochen, aber Archetypen heute ist genau das Verhältnis, das ich zu diesem Begriff der Archetypen habe. Archetypen heute heißt nämlich, heute haben wir andere Archetypen als gestern oder morgen und das heißt wieder, es ist eine Gegenwart, die sich ihre Archetypen bestimmt und nicht umgekehrt. Der Begriff der Archetypen hat ja genau das Gegenteil suggeriert, dass es bestimmte menschheitsgeschichtliche Muster gibt, die unser Vorstellen, Wünschen und Handeln prägen und dass wir sozusagen diese urgeschichtliche Prägungen niemals los werden. Ich finde den anderen Gedanken wesentlich kritischer und interessanter, nämlich, dass es immer eine Gegenwart ist, die sich ihre Vergangenheit schafft, allerdings, um dann so zu tun als ob sie selbst eine Wirkung dieser Vergangenheit wäre.
Das ist das Prinzip, das Sigmund Freud mit dem Begriff Nachträglichkeit gesetzt hat und auch das Prinzip, das Walter Benjamin für die Mode entdeckt hat, indem er gesagt hat die Mode ist ein Tigersprung ins Vergangene und es ist immer eine Gegenwart, die sich in einer bestimmten Vergangenheit als gemeint erkennt. In diesem Sinn kann ich sehr gut von Archetypen heute sprechen, vor allem auch mit einem psychoanalytischen Grundgedanken über ästhetische Erfahrung, einen Gedanken, den Sigmund Freud vor allem in seinen Studien über das déjà vu, das déjà raconté und über die sogenannte false reconnaisance, also das falsche Wiedererkennen entwickelt hat. Es gibt eine schöne Bemerkung, die eine solche Erfahrung innerhalb der klinischen Analyse bezeichnet: Freud sagt einmal, es ist kein stärkerer Beweis für das Gelingen einer psychoanalytischen Deutung, als wenn der Patient sagt, ich habe es immer schon gewusst. Plötzlich weiß er es und dann hat er das Gefühl, er hat es immer schon gewusst. Aber das ist für Freud sozusagen kein platonischer Beweis einer Anamnesis, einer Erinnerung, bei der etwas tatsächlich immer schon gewusst ist, sondern wenn dem Patienten so vorkommt als würde seine jetzige Erkenntnis einem Urbild oder einem Archetypen einer Erkenntnis entsprechen, dann hat diese Erkenntnis wirklich verfangen, dann ist der Patient sozusagen als Tiger in seine Vergangenheit gesprungen und hat sozusagen seine gegenwärtige Erkenntnis auf etwas abgebildet, was er selber gerade als Urbild dieser Erkenntnis in die Vergangenheit geschickt hat.
Das, glaube ich, ist auch das Prinzip sämtlicher ästhetischer Erfahrungen, wenn nicht überhaupt sogar sämtlicher Glückserfahrungen, die wir machen. Denn immer wenn ästhetische Erfahrung gelingt und glücksvoll ausfällt und immer wenn Lebenserfahrung glücksvoll ausfällt, dann haben wir ja nicht nur das Gefühl, so ist es jetzt, toll, sondern wir haben das Gefühl, so muss es sein. Und das heißt, wir haben zu unserer gegenwärtigen Erfahrung blitzschnell ein Urbild in der Vergangenheit produziert, auf das wir es abbilden und das sozusagen als Ideal, Norm usw. fungiert und auf das wir diese Gegenwart abbilden. Auch wenn dieses Ding noch nie dagewesen ist und wenn alles dafür spricht, dass das noch nie dagewesen ist.
Ein berühmtes Beispiel aus der jüngeren Kulturgeschichte für so eine glückliche Findung war der von Roland Barthes kommentierte Fall der Einführung eines neuen Automobils, das 10 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs aussah, als wäre es von einem anderen Stern hier gelandet. Auf dem Pariser Autosalon von 1955 debütierte die von Flaminio Bertoni entworfene Citroën DS, der Name sagte auch schon in der französischen Abkürzung sozusagen, dass da was Göttliches passiert ist, DS. Und dieses Auto hat sofort einer Unmenge von Betrachtern das Gefühl gegeben, so muss heute ein Auto aussehen, der Stand war sofort mit Vorbestellungen überfüllt, obwohl noch niemand dieses Auto gefahren hatte. Also man sieht etwas völlig Neues, hat aber das Gefühl, genau so muss es sein, es entspricht sozusagen meinem Urbild von etwas, das ich allerdings noch nie hatte, außer jetzt.
Dieser Gedanke der Wiedererkennung ist eines der Instrumente, die mich im Folgenden leiten werden. Ausgehend von den abstracts zu dieser Veranstaltung und den Fragen, die Sie im Vorhinein verteilt haben, hab ich mir überlegt, inwiefern die Krise des heutigen Theaters bestehen könnte, worin sie bestehen könnte und insbesondere inwiefern das Theater heute in einer Krise in der Auseinandersetzung mit dem Populären steckt. Nun könnte man natürlich in einer ersten einfachen Annäherung sagen, das Theater hat auf der Ebene kultureller Produktion einfach plötzlich sehr viel mehr Konkurrenz bekommen. Wenn früher nur die Frage war, gehen wir ins Kino, gehen wir ins Theater oder sehen wir uns was im Fernsehen an, so gibt’s heute sozusagen eine Vielzahl aufgefächerter Kulturangebote. Man könnte auch in einen Kunstraum zu einer Performance gehen oder zu einem Popkonzert, man könnte sich aber auch einen Film oder eine TV-Serie runterladen, man könnte aber auch auf ein Clubbing gehen oder ein Videospiel spielen. Die Konkurrenten haben sich also vervielfacht, was natürlich immer zur Neubestimmung eines bestimmten Kulturmediums führt. Das ähnelt der Situation, wenn ein Mädchen, das bisher die größere Schwester von zwei Geschwistern war, durch Neuverheiratung ihrer Eltern plötzlich zwei größere und drei kleinere Geschwister neu dazu bekommt, da verändert sich auch die Rolle der großen Schwester. Und die große Schwester des Theaters muss heute insofern natürlich auch darüber nachdenken, wo sie in diesem neuen Familienverband von Kulturmedien steht. Aber das ist, glaube ich, nicht der entscheidende Grund für die Krise dieser großen Schwester. Der Grund ist, dass es im 20. Jahrhundert etwas gibt, was es vorher nicht gab, jedenfalls lange nicht und das sich sehr stark verbreitet, nämlich Popkultur oder Populärkultur. Und die Populärkultur ist ihrerseits die Wirkung einer sehr tiefgreifenden Veränderung in der Kommunikationsweise westlicher Gesellschaften. Sie ist eine tiefgreifende Veränderung in der Art, wie westliche Gesellschaften Öffentlichkeit herstellen.
Ich möchte Ihnen dazu kurz die zentrale These des meiner Ansicht nach besten Theoretikers vorstellen, der sich darüber Gedanken gemacht hat, nämlich Marshall McLuhan, Herbert Marshall McLuhan, in den frühen 60er Jahren, unter anderem in seinem Buch Understanding Media. Marshall McLuhan schlägt dazu eine großartig einfache Unterscheidung vor. Er sagt, dass vom 15. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts westliche Gesellschaften geprägt durch die Vorherrschaft sogenannter heißer Medien waren, wie des Buchdrucks. Heiße Medien, das heißt in McLuhans Verständnis, Medien, die einen Sinn bis zum Detailreichtum verfeinern. Alle anderen müssen still gestellt werden. Das ist auch die große kulturhistorische Aufgabe der Schule. Immanuel Kant hat in seiner Anthropologie festgestellt, dass die Schule vor allem die Aufgabe hat, die Kinder zum still sitzen zu gewöhnen. Also gar nicht zu informieren, sondern nur, dass die mal lernen still zu sitzen, damit man einen Sinn ansprechen und bis zum Detailreichtum verfeinern kann. Der Detailreichtum führt also zu Linearität, Unterdrückung von Spezialität und zur Spezialisierung des einen, ausgeweiteten Sinns. Das hat wiederum gesellschaftlich zur Folge, dass die Gesellschaften explodieren, wie McLuhan sagt. Alles was mit Schriftkultur zu tun hat, führt dazu, dass eine schriftliche Anordnung über sehr weite Strecken verteilt werden kann, dass genau feststeht, was irgendein Stadthalter tausende Kilometer weit weg ausführen soll, dass es eine Zentralmatura gibt, die über viele 100 Kilometer dieselbe ist usw. Wir haben es also mit einer enormen Ausweitung und Ausdifferenzierung von gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu tun, weil wir Menschen haben, die alle still sitzen können und nur eines machen können. Und wir haben es mit einer Erhöhung von Hierarchien zu tun, weil man über schriftliche Befehle sozusagen sehr lange Befehlsketten unterhalten kann.
All das, sagt McLuhan, ändert sich am Beginn des 20. Jahrhunderts schlagartig, es kommt, wie er sagt, zu einer Abkühlung unserer Medienwelt. Plötzlich herrschen kalte Medien vor, wie das Fernsehen, das Radio, das Kino. Und das sind Medien, die grundsätzlich anders funktionieren, ganz egal, was sie transportieren. Es sind Medien, die zunächst alle Sinne beteiligen, nicht nur einen, dafür weiten sie aber auch kaum einen jemals zu großen Detailreichtum aus. Die Vorherrschaft kalter Medien hat zur Folge, sagt McLuhan, dass westliche Gesellschaften wieder implodieren. Sie werden wieder so, wie sie vor der Einführung des Buchdrucks oder vor der Einführung von Gesellschaften waren, die sehr stark auf dem Prinzip der Schrift beruht haben. Er sagt, dass westliche Gesellschaften ab dem 20. Jahrhundert wieder zu Stammeskulturen werden, sie implodieren zum sogenannten globalen Dorf. Und die Folge ist eine Ent-Spezialisierung. Nichts wird mehr ganz so speziell wahrgenommen, Arbeitsteilung wird in Frage gestellt und es hat Folgen für die Fragen der Hierarchie. Ob die aber sozusagen dadurch automatisch flacher werden, ist eine Frage, die ich offen lassen möchte. Es ist sehr fraglich, was unter erkalteten Bedingungen mit Hierarchie passiert und was es bedeutet, wenn Autorität nun plötzlich ohne die Vermittlungsinstanz des schriftlichen Textes agiert. Möglicherweise ist Autorität noch viel autoritärer, wenn es keine zwischengeschaltete Textebene gibt, die Deutung erlaubt.
Das alles, diese Veränderung, die Abkühlung der westlichen Kultur, führt zur Entstehung dessen, was wir als Popkultur bezeichnen. Und eine Popkultur ist, wie McLuhan selbst sagt, cool. Sie beruht auf der Vorherrschaft kalter Medien. Das hat eine Reihe von Folgen, die die große Schwester Theater betreffen, insbesondere was die Ent-Spezialisierung und die Entstehung von Detailarmut betrifft. Das bedeutet nämlich, dass eine Reihe von Trennungen, die in der westlichen Kultur bis dahin als selbstverständlich galten, in Frage gestellt oder aufgehoben werden. Z.B. die Trennung zwischen Darstellern und Zuschauern, zwischen Vorführenden und Betrachtenden oder auch zwischen Autor und Publikum. Es kommt zu einer Krise der Autorschaft. Es kommt auch zu einer Infragestellung der Grenze zwischen Experten und Laien. Die Religionen können davon ein Lied singen. Alle basteln sich plötzlich ihre Religion selber aus einer fernöstlichen Weisheit und einer Reihe von Rezepten und einer Gymnastik oder so. Es kommt durch die Ent-Spezialisierung und durch die Detailarmut auch zur Verwischung oder Liquidierung des Unterschieds zwischen bloßer Teilnahme und kritischer Beobachtung. Unter kalten Kulturbedingungen sind Sie eigentlich schon mitgefangen, wenn Sie dort sind. Wenn Sie eine Skulptur in der kalifornischen Wüste betrachten, können Sie nicht mehr davor stehen und sagen, also Sie finden das jetzt aber mittelmäßig. Sondern Sie sind schon 200km durch die Wüste gefahren und haben damit quasi Ihre Anhängerschaft und Ihre Kultbereitschaft gegenüber dieser Skulptur kundgetan, dass Sie jetzt noch detailreich urteilen, erübrigt sich eigentlich völlig nach diesem detailarmen Anmarsch.
Was sich auch aufhebt durch das Erkalten der Kultur ist die Unterscheidung zwischen good news und bad news. In der kalten Kultur entsteht eine neue Figur, nämlich die Figur der Prominenz. Und wir vergessen dann, detailarm wie wir sind, relativ schnell, ob das nun ein guter oder ein böser Promi war und meistens wissen wir es gar nicht so genau, selbst wenn wir uns viele Gedanken darüber gemacht haben. Dominique Strauss-Kahn ist auf jeden Fall prominent, egal ob gut oder böse und Hugh Grant ist es auch und auch da wissen wir jetzt nicht genau, ob das gut oder böse war, was der gemacht hat. Es kommt auch zu der Fragestellung der Trennung zwischen produzierenden und reproduzierenden Künsten. Es ist nicht mehr so klar, ob Leute, die Platten nur auflegen, ob das nicht trotzdem Autoren sind, weil sie ein bisschen rütteln an den Platten und damit irgendwelche neue Musik machen usw. Und dasselbe gilt auch in gewisser Weise für das Theater.
Es kommt natürlich auch zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Alltagskultur. Wir sind nicht ganz sicher, ob nicht auch ein Koch ein Künstler ist usw. Und es kommt zur Verwischung der Grenzen zwischen Hochkultur und Trivialkultur.
Das ist besonders interessant für das Theater, da das Theater selber ja ursprünglich aus der Herstellung so einer Grenze entstanden zu sein scheint, wenn wir hier der These von Friedrich Nietzsche folgen dürfen, dass das Theater seinen Ursprung in der Musik hat und dass das Theater dadurch entstanden ist, dass so herumziehende, dionysische, trunkene Horden, die man sich ungefähr so vorstellen kann so wie Banden von Hooligans, die laut Musik gespielt haben und relativ gewaltbereit durch die Antike gezogen sind. Vielleicht aber auch ein bisschen vergleichbar dem, was wir heute so als Love Parade erleben. Dort können wir ein bisschen beobachten, wie das stattfindet, was Nietzsche als den Ursprung des Theaters aus der Musik bezeichnet, nämlich dass sich allmählich Darsteller von Zuschauern absondern. Es gibt auf den Trucks sozusagen Vortänzer und die, die nebenher tanzen, hören dann vielleicht langsam auf zu tanzen und schauen da hinauf, weil die oben vielleicht besser tanzen, so kommt es also zur Spezialisierung, zur Ruhigstellung der Sinne, plötzlich sind alle nicht mehr ganz so beteiligt mit allem sondern sie weiten den Gesichtssinn aus und erkennen langsam eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Experten und Zuschauern an. Und durch diese geringfügige Erhitzung sozusagen kommt es zum Prinzip des Theaters, das dann seinerseits, wie Nietzsche sagt, das dionysische Prinzip des Rausches, der detailarm und beteiligend war, in McLuhans Terminologie, durch das apollinische Prinzip des Bildes ersetzt, das schon seinerzeit alle diese Trennungen zwischen Autor und Publikum, zwischen vorführen und zuschauen usw. impliziert. Nun, wenn das wieder tendenziell rückgängig gemacht wird in einer Kultur, durch die Erkaltung dieser Kultur, durch die Entstehung einer kalten, coolen Popkultur, dann erschüttert das natürlich die Funktionsprinzipien des Theaters.
Allerdings sollten wir, bei allem Schrecken, vielleicht nicht vergessen, dass das Theater zunächst in ganz hohem Maß genau von diesen Veränderungen profitiert hat. Die heroischen Jahrzehnte des Theaters in der Nachkriegszeit, verdanken sich eigentlich genau dem, dass das Theater versucht hat, diese Impulse vielleicht sogar zu antizipieren, bevor sie in der Popkultur wirksam wurden. Walter Benjamin hat einmal im Kunstwerk-Aufsatz eine ganz schöne Bemerkung gemacht, in der er sagt, dass ganz oft in verschiedenen Medien auf Effekte hingearbeitet wird, für die die geeigneten Medien noch gar nicht existieren. Also man konnte das ganz schön in der Literatur beobachten, Andreas Okopenko und der Lexikon-Roman, das war im Medium des Buchdrucks etwas, was man später mit elektronischen Medien sehr viel besser herstellen konnte, Hypertextualität, Querverweise innerhalb eines Textes usw. Möglicherweise war das im Theater auch der Fall. Jedenfalls hat das Theater schon spätestens seit den 50er Jahren auf solche Erkaltungseffekte hin gedrängt und dadurch ungeheure gesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangt. Schon die Aktionen der sogenannten Wiener Gruppe der Literatur, rund um Konrad Bayer, Oswald Wiener, Gerhard Rühm, die in den 50er Jahren das Publikum beteiligt hat, indem es das Publikum mit Gegenständen beworfen hat, deren Namen auch Worte waren. Also das war sozusagen eine Art beteiligender Literaturvorlesung. Oder man hat das Publikum versucht zu beteiligen, indem man es zumindest beschimpft hat – bei Peter Handke – bis hin zu performanceartigen Einbeziehungen, wo Theaterdarsteller oder Performer, bei La Fura dels Baus, mit Kettensägen durch das Publikum sausen und das Publikum unter hohen Stress setzen.
Andere Formen der Erkaltung wurden ebenfalls im Theater zunächst aufgenommen und ausprobiert, etwa die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Kunst und Alltagsleben. Denken Sie an die Formen des Unsichtbaren Theaters bei Augusto Boal. Man konnte vielleicht eine zeitlang glauben man sieht jetzt einem seltsamen Stück Leben zu und erst später wurde aber enthüllt, dass das jetzt Theater war.
Ebenso wurde dazu tendiert, möglichst die Trennung zwischen produzierender und reproduzierenden Kunst aufzuheben. Das war schon z.B. beim Regietheater der Fall, aber ebenso auch bei verschiedenen heutigen Formen, die auf die Aufhebung verschiedener Funktionsformen abzielen oder sie exerzieren, wie man es z.B. bei Rene Pollesch beobachten kann, der sozusagen oft auch Autor seiner Stücke ist, die er inszeniert. Man kann sich schwer vorstellen, dass jemand anderer das auch inszenieren könnte. Oder auch in den Produktionen von Robert Wilson oder im österreichischen Kontext ähnlich bei Kurt Palm und seiner Truppe Der einzige Spaß in der Stadt, Sparverein Die Unz-Ertrennlichen.
Nun, wenn das Theater eigentlich eh so frühreif war und all diese Erkaltungseffekte so freudig vorexerziert hat, bevor sie in der Kultur richtig gegriffen haben, kann man sich eigentlich fragen, warum denn eigentlich heute eine Krise bestehen soll, warum das Theater heute, wie Sie, glaube ich richtig festgestellt haben, durch Popkultur herausgefordert ist? Gut, dazu gibt es eine einfache Antwort: manche anderen können das inzwischen besser als das Theater. Manche anderen Kulturmedien sind sozusagen Pop-adäquater. Allerdings – und insofern bin ich dankbar für das Vorreferat von Herrn Ahrens, weil er gewisser Weise eine Folie dessen geliefert hat, wogegen ich in der Folge argumentieren möchte – ich glaube, das Problem rührt nicht daher, dass die Popkultur das Gegenteil zu Hochkultur wäre. Es ist auch nicht so, dass man sagen könnte, die Hochkultur wäre ein Distinktionsmechanismus einer Klassengesellschaft, während der Pop offen und undistinktiv wäre. Jeder, jede, die irgendwie Kontakt zu Schulkindern haben, weiß davon ein Lied zu singen, wie distinktiv Popkultur ist. Was, du hast noch diese Turnschuhe, ich hab aber schon diese Turnschuhe. Das ist wesentlich distinktiver als alles, was Sie hier im Landestheater erleben können. Ich hab Wagner gesehen, du Mozart, na gut, ok...
Das betrifft auch natürlich Popmusik. Als ich in die Schule ging, haben meine Freunde und ich, die Pink Floyd gehört haben, immer gesagt zu den anderen, die auch mal so interessiert zugehört haben, Pink Floyd ist nichts für Brave. Wir haben die also ab-distinguiert.
Der Gegensatz zu Hochkultur ist nicht Popkultur sondern Trivialkultur und das ist nicht dasselbe. Dieser Gegensatz existiert immer, wenn eine Gesellschaft durch Klassenstrukturen geprägt ist.
Der Gegensatz von Popkultur aber ist nicht Hochkultur, sondern Klassik. Und das ist ein ganz anderes Funktionsprinzip, das hat nicht notwendigerweise mit der Existenz von Klassen zu tun, sondern mit einem Verhältnis zwischen coolen und hotten Mechanismen in einer Kultur, zwischen heißen und kalten Mechanismen in einer Kultur. Und diesen Gegensatz gibt es eben nur unter der Bedingung, dass eine Kultur sozusagen vorherrschend kalt, aber teilweise noch heiß ist, wie die unsere. Und das hat eine entscheidende Folge für die titelgebende Frage dieser Konferenz, was uns alle angeht und was denn das eigentlich sei und ob es das überhaupt gibt, was uns alle angeht. Pop und Klassik, als Funktionsprinzipien von Kultur, haben nämlich zwei völlig verschiedene Ausbreitungsmuster. Da der Pop beteiligend ist und einbezieht, egal ob man es will oder nicht, ist der Pop synchron. Er breitet sich innerhalb der Gegenwart aus. Die Klassik hingegen hat als Horizont immer die Zukunft. Darum ist die entscheidende Frage in der klassischen Kulturproduktion immer, ist das etwas das bleiben wird? Ist das jetzt eine Meilenstein der Kunstgeschichte? Wird dieser Text die Literaturgeschichte der nächsten Jahrhunderte verändern? Das ist eine typische klassische Frage, wobei die Kulturproduktion sozusagen ähnlich wie beim Pop auf eine große Zahl von Produzenten und Rezipienten abzielt, aber sie über die Zeit hinweg verteilt.
Man hat auch zu Beginn der Moderne, also der klassischen Avantgarden, sehr oft gesagt, das wird man vielleicht erst in 100 Jahren richtig würdigen können und das Publikum war oft erschüttert sozusagen diesen zündenden Funken einer Jahrhundertgeschichte miterleben zu können. James Joyce war sehr wenig Pop aber sofort Klassik. Man hat sofort das Gefühl gehabt, davon wird man in 100 Jahren noch reden. Während man also bei der Klassik immer die Frage stellt, ist das etwas, was bleibt? Fragt man beim Pop immer, ist es etwas, das ist, ist das angesagt? Ob das auch bleibt, ist für den Pop nicht relevant. Natürlich gibt es im Pop auch irgendwann dann Klassik, das ist aber sozusagen eine zweite Funktion, die man erst erkennen kann, nachdem man die Funktionsprinzipien unterschieden hat. Und umgekehrt gibt es natürlich auch den Fall, das Klassik manchmal auch Pop ist. Vielleicht war Mozart zu seiner Zeit auch Pop, aber er war auch Klassik. Man hat also, glaube ich, mit dieser Unterscheidung zwischen Pop und Klassik wieder die von Nietzsche getroffene Unterscheidung zwischen dem dionysischen und dem apollinischen gefunden. Das dionysische würde dem Pop entsprechen, es ist cool, das apollinische der Klassik – es ist heiß.
Während das Dionysische Kult produziert, produziert das Apollinische Kunst. Die Kunst setzt Distanz voraus, kritische Auseinandersetzung, Geltungsfragen über die Zeit hinweg, das kennt der Pop nicht, der produziert in erster Linie Kult. Da ist es wichtig, beteiligt zu sein, Formen der Beteiligung zu finden, die meistens detailarm bleiben. Ich darf das vielleicht mit einem kleinen persönlichen Detail illustrieren: ich habe eigentlich immer gedacht, als Wissenschaftler gehöre ich zur apollinischen Seite, versuche etwas zu produzieren, das irgendwie bleiben wird, das die Philosophie und die Kulturgeschichte sozusagen wenigsten über ein paar Jahrzehnte hinweg irgendwie beeinflussen könnte. Aber, nein, gestern hat mir meine Agentin eine interessante Mail geschrieben: Weißt du schon, dass in Berlin gerade eine Bar nach dir benannt wird. Du bist ein Popstar. Nun weiß ich weder, ob das mit der Bar stimmt, noch ob ich deswegen ein Popstar bin, aber wenn es so wäre, wäre es ein gutes Beispiel dafür, was Kult ist. Niemand, der diese Bar besucht, muss meine Texte kennen, muss sich damit kritisch abwägend auseinandergesetzt haben, es genügt vielleicht, dass er dort ein Bier trinkt und ihn jemand anderer auf mich zu prostet. Das wäre eine Form von niederschwelligen Kult, wie er typisch ist für das Dionysische.
Nun hat das allerdings, wie auch McLuhan mit seiner These von den Stammeskulturen und dem globalen Dorf in der kalten Gesellschaften und der explodierende Urbanität in den heißen Kulturen schon sehr gut klargelegt hat, auch unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung und unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Solidarität zur Folge.
Der Pop produziert immer Gemeinschaften, im Pop schließen sich immer Gleichgesinnte zusammen. In der Klassik entstehen immer Gesellschaften, die müssen nicht gleichgesinnt sein. Es können Leute ins Burgtheater in Wien gehen und völlig unterschiedliche Ansichten über das Regietheater haben oder über den Autor, sie können sich austauschen oder streiten oder gar nichts sagen. Das ist im Pop kaum möglich. Es hat wenig Sinn, zu einem Punk-Konzert zu gehen und dann zu sagen, naja, die Sängerin war heute aber indisponiert oder der Gitarrist gehört eigentlich auch ausgetauscht. Also diese kritische, distanzierte, testende Beobachtung ist hier eigentlich völlig fehl am Platz. Sie sind schon durch den dress code, der für diese bestimmte Art von Kultur und Kult herrscht, eigentlich mitgefangen und müssen den auch zum Ausdruck bringen. Das ist übrigens ein weiterer Grund weshalb ich glaube, das Pop im hohen Masse distinktiv und keineswegs offen und zugänglich ist. Wenn Sie zu einem Techno-Konzert gehen wollen, haben Sie wahrscheinlich massive Probleme mit dem dress code und werden sich 10x überlegen, welche Schuhe Sie dazu anziehen können und welche nicht. Das ist wesentlich komplizierter, als wenn Sie zu einer Aufführung des Landestheaters Linz gehen möchten. Das ist auch hier nicht mehr so, wie in den glorreichen Zeiten des Burgtheaters, dass man nicht reingelassen wurde, wenn man keine Krawatte trägt oder so was.
Das hat noch einmal eine sehr interessante Folge, die man psychoanalytisch im Bezug auf die Subjektivierungsformen untersuchen und betrachten kann oder in anderen Worten im Bezug auf das Wiedererkennen, das hier stattfindet, wenn Wiedererkennung, false reconaissance usw. ein grundlegender Mechanismus ästhetischer Erfahrung ist.
Der Pop bringt als sein Strukturprinzip Prominenz hervor und zwar den Star. Der Star ist ein Idol, aber er ist kein Ideal. Der Star ist das, was man nach der Unterscheidung Freuds zwischen dem Ideal-Ich und dem Ich-Ideal auf die Seite des Ideal-Ich rechnen muss. Der Star ist derselbe, wie sein Fan, nur in einer idealisierten, wunschgerechten Aufbereitung. Er signalisiert dem Fan aber, eigentlich dasselbe zu sein, wie der Fan. Der Fan fühlt sich im Erlebnis mit seinem Star eins mit dem Star. Das ist typisch für das Ideal-ich. Die Klassik produziert etwas ganz anderes, nämlich so etwas wie eine Beobachtungsinstanz, die sehr weit weg projiziert wird. Zukünftige Jahrhunderte werden hierüber urteilen, man versucht auf sich selbst herunter zu blicken aus der Distanz dieser zukünftigen Jahrhunderte. Das ist eigentlich genau das, was Freud das Ich-Ideal nennt. Das Ich-Ideal ist immer sozusagen ein Blick-Ideal, ein Blick, von dem aus wir uns betrachten müssen, um uns die Frage stellen zu können, ob wir liebenswert sind oder nicht. In anderen Worten auch, Freud identifiziert das manchmal, es ist ein Über-Ich, das bestimmte Anforderungen an uns stellt. Umgekehrt stellen wir aber auch bestimmte Anforderungen und deshalb ist die Klassik ihrem Wesen nach kritisch. Wir untersuchen auch, ob die Vorführenden jetzt unserem Ideal von ihnen entsprochen haben. Sowohl die Produzierenden als auch die Rezipierenden sind normativen Forderungen diesen Ideals unterworfen. Der Pop sozusagen bringt eine bestimmte narzisstische Wunscherfüllung mit sich, er stellt die Identität des Fans mit dem Idol als erfüllt dar. Die Klassik hingegen stresst die Leute. Sie stellt die Leute unter Anforderungen: haben Sie das richtig verstanden? Haben Sie das so verstanden, wie es in Jahrhunderten verstanden werden wird usw.
Das hat glaube ich, und damit komme ich zu meine letzten politischen Punkt, sehr entscheidende Folgerungen, nicht nur dafür, was das Theater derzeit sein kann, in der Auseinandersetzung mit Formen des Pop, sondern auch in Bezug auf politische Formen aktueller Vergesellschaftung. Denn wenn es etwas gibt, was postmoderne Ideologie, als die vorherrschende Ideologie neoliberaler Tendenzen in der Gesellschaft betrifft – also ich würde sagen, die Postmoderne ist genau die Ideologie, die den Neoliberalismus begleitet hat, d. h. die Beraubung westlicher Gesellschaften vom Großteil des bis dahin gemeinschaftlich geteilten Wohllebens und Wohlstandes – wenn also die postmoderne Ideologie eine Position hat über Formen gesellschaftlicher Solidarität oder über die Frage, was uns denn alle angeht, dann ist es glaube ich das, dass das, was alle angeht, immer das gemeinschaftliche wäre. Also wenn wir solidarisch sind, dann sind wir doch solidarisch in einer Community, oder nicht. Wir haben irgendwas gemeinsam, wir lieben dieselbe Band oder wir tragen dieselben Marken Labels, weil die garantiert nicht von irgendwelchen Kindern oder Sklaven genäht wurden, oder wir investieren in dieselben Umweltfonds oder so etwas. Diese Solidarität ist also die Solidarität der Gemeinschaft. In Gemeinschaften sind nur Mitglieder solidarisch, die irgendwas miteinander gemein haben, irgendein Merkmal, z.B. dass sie alle verwandt sind, die Familie ist ein typisches Beispiel für eine gemeinschaftliche Form von Solidarität. Genauso in der Postmoderne, wo darum eben die Frage nach der Identität so entscheidend wird, alle beschnuppern einander, hast du die selbe Identität wie ich oder nicht und dann separiert man sich nach allen Kriterien, die da nur möglich sind, nach Musikgeschmack, sexueller Orientierung, Identität usw. Und irgendwann sind dann alle gemeinschaftlich gut separiert und sind nur noch mit den gleichgeorteten und gleich orientierten beisammen. Es treffen sich dann, wie Max Goldt sagen würde, nur noch alle schwulen schwererziehbaren Schwager aus der Schweiz.
Die Gemeinschaft ist das vorherrschende Organisationsmuster von Solidarität in der Postmoderne und die Postmoderne versucht uns auch glauben zu machen, dass es gar nichts anderes gäbe. Viele glauben das heute schon. Also sehr oft, wenn ich Studentenarbeiten in Architekturklassen, wo ich manchmal eingeladen bin, beobachte, an vielen Universitäten Europas, wenn die oft so beliebte Themen haben, wie die Stadt der Zukunft, dann bauen die so ein großes Gebäude, in dem lauter 25jährige, die keine Eltern und keine Kinder haben, leben und arbeiten. Das zeigt aber sehr deutlich, dass die eigentlich nur einen Begriff von gemeinschaftlicher Solidarität kennen und keinen Begriff von gesellschaftlicher. Denen fällt gar nicht auf, dass es auch andere Altersklassen gibt, dass vielleicht ein Unterschied zwischen Arbeit und anderem Leben auch wünschenswert sein könnte usw. Das ist übrigens die entscheidende und auch ausdrücklich ausgesprochene Position des Neoliberalismus, Margret Thatcher hat das schon am Beginn ihrer Regierungszeit mit dankenswerter Deutlichkeit gesagt. Sie hat gesagt, die Gesellschaft gibt es nicht. Das war eine entscheidende Kampfansage, es gibt gar keine Form von Solidarität, von Menschen, die kein Merkmal gemeinsam haben. Und das ist glaube ich der entscheidende Punkt, an dem man politisch heute ansetzen muss.
Man muss in Erinnerung rufen, dass es sehr wohl Formen von Solidarität geben kann, die nicht daran gebunden ist, dass wir irgendein Merkmal teilen. Wir müssen weder dieselbe Musik hören noch dieselbe sexuelle Orientierung haben noch sonst irgendein Merkmal teilen um solidarisch sein zu können. Andernfalls reduziert sich unser politisches Engagement immer auf das Unbedeutende, dann werden wir z.B. Hedgefonds niemals stoppen, weil das nicht in irgendeine Identitätsfrage hineinfällt. Zugleich rührt hier, etwas niederstufiger, glaube ich, die Chance des Theaters in der aktuellen Popkrise her, wie man sie nennen könnte.
Denn das Theater ist nicht nur ein mimetisches Nachahmungsmedium, es ist zugleich damit auch, was Nachahmung immer an sich hat, gewisser Weise ein Distanzierungsmedium. Mir fällt hier manchmal der Satz von Blaise Pascal ein, dem französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, der geschrieben hat: zwei Gesichter, von denen keines für sich genommen komisch ist, wirken durch ihre Ähnlichkeit lächerlich. Es sieht dann immer so aus, wie wenn das eine Gesicht schon die Parodie des anderen wäre. Diese Form der Distanzierungsleistung bringt Theater immer mit sich, man kann das auch sehr gut im klinischen Bereich der Psychoanalyse nachvollziehen. Sigmund Freud hat das in seiner Studie Jenseits des Lustprinzips vorgeführt, dass Theaterspielen, nachspielen bestimmter überbeeindruckender Situationen, schmerzhafter, schreckhafter Situationen immer auch eine Form der Distanzierung, der Bemeisterung dieser Situationen darstellt. Darum ist eben das Theater glaube ich nicht nur ein mimetisches Nachahmungsmedium, sondern auch ein Distanzierungsmedium und ein Reflektionsmedium.
Wenn Theater also auf Popkultur Bezug nimmt oder sie integriert, kann es sehr wohl sein, dass das Theater selbst dadurch zum Pop wird, wie es glaub ich Rene Pollesch in Berlin sehr schön gelungen ist. Aber das heißt nicht, dass es nicht zugleich auch eine Art Meta-Pop sein könnte, ein Distanzierungsmedium, das vielleicht auch größere Solidaritäten ermöglicht, also nur die gemeinschaftlichen Solidaritäten des Pop. Um nur ein Beispiel zu nennen, wie diese Meta-Pop-Funktion funktionieren könnte, habe ich an ein Stück von Rene Pollesch gedacht, das wie immer auf diese Popformen von Theater oder von theatralischer Wirklichkeit Bezug nimmt. Es war schon in der Presse bekannt, dass Tobias Moretti vorgesehen war für diesen Hitlerfilm, als Darsteller von Adolf Hitler. Und Pollesch hat nun, genial, glaube ich, phantasmatisch diese Szene sich ausgemalt, das Phantasma ist sozusagen immer das Ausmalen von Szenen, die es nicht gab oder bei denen man grundsätzlich nicht anwesend sein kann. Aber er hat sich das wunderbar ausgemalt, wie ist das jetzt, wenn dieses Produktionsteam zusammensitzt und sagt ok, jetzt haben wir den Moretti für den Hitler gecastet, jetzt brauchen wir noch einen Hund, hat irgendwer einen Hund und was für einen nehmen wir. Und dann hat irgendjemand gesagt, naja, Hitler hatte einen Schäferhund, nehmen wir einen Schäferhund und dann haben die aufgeschrien, nein, um Gottes Willen, der Hitler darf keinen Schäferhund haben, weil sonst glauben alle Zuschauer das ist der Kommissar Rex. Und dann kommt heraus, dass Hitler mit einem Pudel auftreten muss oder so. Und das ist, also nur in einer Miniatur, glaube ich, ein Beispiel davon, wie das Theater als Distanzierungsmedium zur Popkultur, selber Pop sein und doch darüber reflektieren und etwas anderes eröffnen kann, ohne damit die Unterscheidung zwischen distinktiver und nicht-distinktiver Kultur überhaupt zu berühren.
Ich glaube, was das Theater damit leisten kann, ist nicht nur ein ästhetischer Effekt von beträchtlicher Größe und Heiterkeit, sondern es hält damit auch eine politische Erinnerung wach. Ich glaube, es sagt uns damit nämlich, dass es jenseits der Gemeinschaft noch andere und wahrscheinlich egalitärer Formen der Solidarität gibt und das die möglich sind, nämlich Formen der Gesellschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Hier kann man Robert Pfaller´s Rede nachlesen:
Vortrag Robert Pfaller ARCHETYPEN HEUTE
Ich freue mich sehr bei Ihnen zu Gast zu sein, noch dazu, dass ich jetzt eben mit dem Heimvorteil zu Ihnen sprechen kann aus meiner zweiten Heimatstadt Linz.
Der Titel Archetypen heute, wurde mir von Ihnen vorgeschlagen, ich bin außerordentlich dankbar und froh darüber, über Archetypen hätte ich nämlich niemals gesprochen, aber Archetypen heute ist genau das Verhältnis, das ich zu diesem Begriff der Archetypen habe. Archetypen heute heißt nämlich, heute haben wir andere Archetypen als gestern oder morgen und das heißt wieder, es ist eine Gegenwart, die sich ihre Archetypen bestimmt und nicht umgekehrt. Der Begriff der Archetypen hat ja genau das Gegenteil suggeriert, dass es bestimmte menschheitsgeschichtliche Muster gibt, die unser Vorstellen, Wünschen und Handeln prägen und dass wir sozusagen diese urgeschichtliche Prägungen niemals los werden. Ich finde den anderen Gedanken wesentlich kritischer und interessanter, nämlich, dass es immer eine Gegenwart ist, die sich ihre Vergangenheit schafft, allerdings, um dann so zu tun als ob sie selbst eine Wirkung dieser Vergangenheit wäre.
Das ist das Prinzip, das Sigmund Freud mit dem Begriff Nachträglichkeit gesetzt hat und auch das Prinzip, das Walter Benjamin für die Mode entdeckt hat, indem er gesagt hat die Mode ist ein Tigersprung ins Vergangene und es ist immer eine Gegenwart, die sich in einer bestimmten Vergangenheit als gemeint erkennt. In diesem Sinn kann ich sehr gut von Archetypen heute sprechen, vor allem auch mit einem psychoanalytischen Grundgedanken über ästhetische Erfahrung, einen Gedanken, den Sigmund Freud vor allem in seinen Studien über das déjà vu, das déjà raconté und über die sogenannte false reconnaisance, also das falsche Wiedererkennen entwickelt hat. Es gibt eine schöne Bemerkung, die eine solche Erfahrung innerhalb der klinischen Analyse bezeichnet: Freud sagt einmal, es ist kein stärkerer Beweis für das Gelingen einer psychoanalytischen Deutung, als wenn der Patient sagt, ich habe es immer schon gewusst. Plötzlich weiß er es und dann hat er das Gefühl, er hat es immer schon gewusst. Aber das ist für Freud sozusagen kein platonischer Beweis einer Anamnesis, einer Erinnerung, bei der etwas tatsächlich immer schon gewusst ist, sondern wenn dem Patienten so vorkommt als würde seine jetzige Erkenntnis einem Urbild oder einem Archetypen einer Erkenntnis entsprechen, dann hat diese Erkenntnis wirklich verfangen, dann ist der Patient sozusagen als Tiger in seine Vergangenheit gesprungen und hat sozusagen seine gegenwärtige Erkenntnis auf etwas abgebildet, was er selber gerade als Urbild dieser Erkenntnis in die Vergangenheit geschickt hat.
Das, glaube ich, ist auch das Prinzip sämtlicher ästhetischer Erfahrungen, wenn nicht überhaupt sogar sämtlicher Glückserfahrungen, die wir machen. Denn immer wenn ästhetische Erfahrung gelingt und glücksvoll ausfällt und immer wenn Lebenserfahrung glücksvoll ausfällt, dann haben wir ja nicht nur das Gefühl, so ist es jetzt, toll, sondern wir haben das Gefühl, so muss es sein. Und das heißt, wir haben zu unserer gegenwärtigen Erfahrung blitzschnell ein Urbild in der Vergangenheit produziert, auf das wir es abbilden und das sozusagen als Ideal, Norm usw. fungiert und auf das wir diese Gegenwart abbilden. Auch wenn dieses Ding noch nie dagewesen ist und wenn alles dafür spricht, dass das noch nie dagewesen ist.
Ein berühmtes Beispiel aus der jüngeren Kulturgeschichte für so eine glückliche Findung war der von Roland Barthes kommentierte Fall der Einführung eines neuen Automobils, das 10 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs aussah, als wäre es von einem anderen Stern hier gelandet. Auf dem Pariser Autosalon von 1955 debütierte die von Flaminio Bertoni entworfene Citroën DS, der Name sagte auch schon in der französischen Abkürzung sozusagen, dass da was Göttliches passiert ist, DS. Und dieses Auto hat sofort einer Unmenge von Betrachtern das Gefühl gegeben, so muss heute ein Auto aussehen, der Stand war sofort mit Vorbestellungen überfüllt, obwohl noch niemand dieses Auto gefahren hatte. Also man sieht etwas völlig Neues, hat aber das Gefühl, genau so muss es sein, es entspricht sozusagen meinem Urbild von etwas, das ich allerdings noch nie hatte, außer jetzt.
Dieser Gedanke der Wiedererkennung ist eines der Instrumente, die mich im Folgenden leiten werden. Ausgehend von den abstracts zu dieser Veranstaltung und den Fragen, die Sie im Vorhinein verteilt haben, hab ich mir überlegt, inwiefern die Krise des heutigen Theaters bestehen könnte, worin sie bestehen könnte und insbesondere inwiefern das Theater heute in einer Krise in der Auseinandersetzung mit dem Populären steckt. Nun könnte man natürlich in einer ersten einfachen Annäherung sagen, das Theater hat auf der Ebene kultureller Produktion einfach plötzlich sehr viel mehr Konkurrenz bekommen. Wenn früher nur die Frage war, gehen wir ins Kino, gehen wir ins Theater oder sehen wir uns was im Fernsehen an, so gibt’s heute sozusagen eine Vielzahl aufgefächerter Kulturangebote. Man könnte auch in einen Kunstraum zu einer Performance gehen oder zu einem Popkonzert, man könnte sich aber auch einen Film oder eine TV-Serie runterladen, man könnte aber auch auf ein Clubbing gehen oder ein Videospiel spielen. Die Konkurrenten haben sich also vervielfacht, was natürlich immer zur Neubestimmung eines bestimmten Kulturmediums führt. Das ähnelt der Situation, wenn ein Mädchen, das bisher die größere Schwester von zwei Geschwistern war, durch Neuverheiratung ihrer Eltern plötzlich zwei größere und drei kleinere Geschwister neu dazu bekommt, da verändert sich auch die Rolle der großen Schwester. Und die große Schwester des Theaters muss heute insofern natürlich auch darüber nachdenken, wo sie in diesem neuen Familienverband von Kulturmedien steht. Aber das ist, glaube ich, nicht der entscheidende Grund für die Krise dieser großen Schwester. Der Grund ist, dass es im 20. Jahrhundert etwas gibt, was es vorher nicht gab, jedenfalls lange nicht und das sich sehr stark verbreitet, nämlich Popkultur oder Populärkultur. Und die Populärkultur ist ihrerseits die Wirkung einer sehr tiefgreifenden Veränderung in der Kommunikationsweise westlicher Gesellschaften. Sie ist eine tiefgreifende Veränderung in der Art, wie westliche Gesellschaften Öffentlichkeit herstellen.
Ich möchte Ihnen dazu kurz die zentrale These des meiner Ansicht nach besten Theoretikers vorstellen, der sich darüber Gedanken gemacht hat, nämlich Marshall McLuhan, Herbert Marshall McLuhan, in den frühen 60er Jahren, unter anderem in seinem Buch Understanding Media. Marshall McLuhan schlägt dazu eine großartig einfache Unterscheidung vor. Er sagt, dass vom 15. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts westliche Gesellschaften geprägt durch die Vorherrschaft sogenannter heißer Medien waren, wie des Buchdrucks. Heiße Medien, das heißt in McLuhans Verständnis, Medien, die einen Sinn bis zum Detailreichtum verfeinern. Alle anderen müssen still gestellt werden. Das ist auch die große kulturhistorische Aufgabe der Schule. Immanuel Kant hat in seiner Anthropologie festgestellt, dass die Schule vor allem die Aufgabe hat, die Kinder zum still sitzen zu gewöhnen. Also gar nicht zu informieren, sondern nur, dass die mal lernen still zu sitzen, damit man einen Sinn ansprechen und bis zum Detailreichtum verfeinern kann. Der Detailreichtum führt also zu Linearität, Unterdrückung von Spezialität und zur Spezialisierung des einen, ausgeweiteten Sinns. Das hat wiederum gesellschaftlich zur Folge, dass die Gesellschaften explodieren, wie McLuhan sagt. Alles was mit Schriftkultur zu tun hat, führt dazu, dass eine schriftliche Anordnung über sehr weite Strecken verteilt werden kann, dass genau feststeht, was irgendein Stadthalter tausende Kilometer weit weg ausführen soll, dass es eine Zentralmatura gibt, die über viele 100 Kilometer dieselbe ist usw. Wir haben es also mit einer enormen Ausweitung und Ausdifferenzierung von gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu tun, weil wir Menschen haben, die alle still sitzen können und nur eines machen können. Und wir haben es mit einer Erhöhung von Hierarchien zu tun, weil man über schriftliche Befehle sozusagen sehr lange Befehlsketten unterhalten kann.
All das, sagt McLuhan, ändert sich am Beginn des 20. Jahrhunderts schlagartig, es kommt, wie er sagt, zu einer Abkühlung unserer Medienwelt. Plötzlich herrschen kalte Medien vor, wie das Fernsehen, das Radio, das Kino. Und das sind Medien, die grundsätzlich anders funktionieren, ganz egal, was sie transportieren. Es sind Medien, die zunächst alle Sinne beteiligen, nicht nur einen, dafür weiten sie aber auch kaum einen jemals zu großen Detailreichtum aus. Die Vorherrschaft kalter Medien hat zur Folge, sagt McLuhan, dass westliche Gesellschaften wieder implodieren. Sie werden wieder so, wie sie vor der Einführung des Buchdrucks oder vor der Einführung von Gesellschaften waren, die sehr stark auf dem Prinzip der Schrift beruht haben. Er sagt, dass westliche Gesellschaften ab dem 20. Jahrhundert wieder zu Stammeskulturen werden, sie implodieren zum sogenannten globalen Dorf. Und die Folge ist eine Ent-Spezialisierung. Nichts wird mehr ganz so speziell wahrgenommen, Arbeitsteilung wird in Frage gestellt und es hat Folgen für die Fragen der Hierarchie. Ob die aber sozusagen dadurch automatisch flacher werden, ist eine Frage, die ich offen lassen möchte. Es ist sehr fraglich, was unter erkalteten Bedingungen mit Hierarchie passiert und was es bedeutet, wenn Autorität nun plötzlich ohne die Vermittlungsinstanz des schriftlichen Textes agiert. Möglicherweise ist Autorität noch viel autoritärer, wenn es keine zwischengeschaltete Textebene gibt, die Deutung erlaubt.
Das alles, diese Veränderung, die Abkühlung der westlichen Kultur, führt zur Entstehung dessen, was wir als Popkultur bezeichnen. Und eine Popkultur ist, wie McLuhan selbst sagt, cool. Sie beruht auf der Vorherrschaft kalter Medien. Das hat eine Reihe von Folgen, die die große Schwester Theater betreffen, insbesondere was die Ent-Spezialisierung und die Entstehung von Detailarmut betrifft. Das bedeutet nämlich, dass eine Reihe von Trennungen, die in der westlichen Kultur bis dahin als selbstverständlich galten, in Frage gestellt oder aufgehoben werden. Z.B. die Trennung zwischen Darstellern und Zuschauern, zwischen Vorführenden und Betrachtenden oder auch zwischen Autor und Publikum. Es kommt zu einer Krise der Autorschaft. Es kommt auch zu einer Infragestellung der Grenze zwischen Experten und Laien. Die Religionen können davon ein Lied singen. Alle basteln sich plötzlich ihre Religion selber aus einer fernöstlichen Weisheit und einer Reihe von Rezepten und einer Gymnastik oder so. Es kommt durch die Ent-Spezialisierung und durch die Detailarmut auch zur Verwischung oder Liquidierung des Unterschieds zwischen bloßer Teilnahme und kritischer Beobachtung. Unter kalten Kulturbedingungen sind Sie eigentlich schon mitgefangen, wenn Sie dort sind. Wenn Sie eine Skulptur in der kalifornischen Wüste betrachten, können Sie nicht mehr davor stehen und sagen, also Sie finden das jetzt aber mittelmäßig. Sondern Sie sind schon 200km durch die Wüste gefahren und haben damit quasi Ihre Anhängerschaft und Ihre Kultbereitschaft gegenüber dieser Skulptur kundgetan, dass Sie jetzt noch detailreich urteilen, erübrigt sich eigentlich völlig nach diesem detailarmen Anmarsch.
Was sich auch aufhebt durch das Erkalten der Kultur ist die Unterscheidung zwischen good news und bad news. In der kalten Kultur entsteht eine neue Figur, nämlich die Figur der Prominenz. Und wir vergessen dann, detailarm wie wir sind, relativ schnell, ob das nun ein guter oder ein böser Promi war und meistens wissen wir es gar nicht so genau, selbst wenn wir uns viele Gedanken darüber gemacht haben. Dominique Strauss-Kahn ist auf jeden Fall prominent, egal ob gut oder böse und Hugh Grant ist es auch und auch da wissen wir jetzt nicht genau, ob das gut oder böse war, was der gemacht hat. Es kommt auch zu der Fragestellung der Trennung zwischen produzierenden und reproduzierenden Künsten. Es ist nicht mehr so klar, ob Leute, die Platten nur auflegen, ob das nicht trotzdem Autoren sind, weil sie ein bisschen rütteln an den Platten und damit irgendwelche neue Musik machen usw. Und dasselbe gilt auch in gewisser Weise für das Theater.
Es kommt natürlich auch zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Alltagskultur. Wir sind nicht ganz sicher, ob nicht auch ein Koch ein Künstler ist usw. Und es kommt zur Verwischung der Grenzen zwischen Hochkultur und Trivialkultur.
Das ist besonders interessant für das Theater, da das Theater selber ja ursprünglich aus der Herstellung so einer Grenze entstanden zu sein scheint, wenn wir hier der These von Friedrich Nietzsche folgen dürfen, dass das Theater seinen Ursprung in der Musik hat und dass das Theater dadurch entstanden ist, dass so herumziehende, dionysische, trunkene Horden, die man sich ungefähr so vorstellen kann so wie Banden von Hooligans, die laut Musik gespielt haben und relativ gewaltbereit durch die Antike gezogen sind. Vielleicht aber auch ein bisschen vergleichbar dem, was wir heute so als Love Parade erleben. Dort können wir ein bisschen beobachten, wie das stattfindet, was Nietzsche als den Ursprung des Theaters aus der Musik bezeichnet, nämlich dass sich allmählich Darsteller von Zuschauern absondern. Es gibt auf den Trucks sozusagen Vortänzer und die, die nebenher tanzen, hören dann vielleicht langsam auf zu tanzen und schauen da hinauf, weil die oben vielleicht besser tanzen, so kommt es also zur Spezialisierung, zur Ruhigstellung der Sinne, plötzlich sind alle nicht mehr ganz so beteiligt mit allem sondern sie weiten den Gesichtssinn aus und erkennen langsam eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Experten und Zuschauern an. Und durch diese geringfügige Erhitzung sozusagen kommt es zum Prinzip des Theaters, das dann seinerseits, wie Nietzsche sagt, das dionysische Prinzip des Rausches, der detailarm und beteiligend war, in McLuhans Terminologie, durch das apollinische Prinzip des Bildes ersetzt, das schon seinerzeit alle diese Trennungen zwischen Autor und Publikum, zwischen vorführen und zuschauen usw. impliziert. Nun, wenn das wieder tendenziell rückgängig gemacht wird in einer Kultur, durch die Erkaltung dieser Kultur, durch die Entstehung einer kalten, coolen Popkultur, dann erschüttert das natürlich die Funktionsprinzipien des Theaters.
Allerdings sollten wir, bei allem Schrecken, vielleicht nicht vergessen, dass das Theater zunächst in ganz hohem Maß genau von diesen Veränderungen profitiert hat. Die heroischen Jahrzehnte des Theaters in der Nachkriegszeit, verdanken sich eigentlich genau dem, dass das Theater versucht hat, diese Impulse vielleicht sogar zu antizipieren, bevor sie in der Popkultur wirksam wurden. Walter Benjamin hat einmal im Kunstwerk-Aufsatz eine ganz schöne Bemerkung gemacht, in der er sagt, dass ganz oft in verschiedenen Medien auf Effekte hingearbeitet wird, für die die geeigneten Medien noch gar nicht existieren. Also man konnte das ganz schön in der Literatur beobachten, Andreas Okopenko und der Lexikon-Roman, das war im Medium des Buchdrucks etwas, was man später mit elektronischen Medien sehr viel besser herstellen konnte, Hypertextualität, Querverweise innerhalb eines Textes usw. Möglicherweise war das im Theater auch der Fall. Jedenfalls hat das Theater schon spätestens seit den 50er Jahren auf solche Erkaltungseffekte hin gedrängt und dadurch ungeheure gesellschaftliche Aufmerksamkeit erlangt. Schon die Aktionen der sogenannten Wiener Gruppe der Literatur, rund um Konrad Bayer, Oswald Wiener, Gerhard Rühm, die in den 50er Jahren das Publikum beteiligt hat, indem es das Publikum mit Gegenständen beworfen hat, deren Namen auch Worte waren. Also das war sozusagen eine Art beteiligender Literaturvorlesung. Oder man hat das Publikum versucht zu beteiligen, indem man es zumindest beschimpft hat – bei Peter Handke – bis hin zu performanceartigen Einbeziehungen, wo Theaterdarsteller oder Performer, bei La Fura dels Baus, mit Kettensägen durch das Publikum sausen und das Publikum unter hohen Stress setzen.
Andere Formen der Erkaltung wurden ebenfalls im Theater zunächst aufgenommen und ausprobiert, etwa die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Kunst und Alltagsleben. Denken Sie an die Formen des Unsichtbaren Theaters bei Augusto Boal. Man konnte vielleicht eine zeitlang glauben man sieht jetzt einem seltsamen Stück Leben zu und erst später wurde aber enthüllt, dass das jetzt Theater war.
Ebenso wurde dazu tendiert, möglichst die Trennung zwischen produzierender und reproduzierenden Kunst aufzuheben. Das war schon z.B. beim Regietheater der Fall, aber ebenso auch bei verschiedenen heutigen Formen, die auf die Aufhebung verschiedener Funktionsformen abzielen oder sie exerzieren, wie man es z.B. bei Rene Pollesch beobachten kann, der sozusagen oft auch Autor seiner Stücke ist, die er inszeniert. Man kann sich schwer vorstellen, dass jemand anderer das auch inszenieren könnte. Oder auch in den Produktionen von Robert Wilson oder im österreichischen Kontext ähnlich bei Kurt Palm und seiner Truppe Der einzige Spaß in der Stadt, Sparverein Die Unz-Ertrennlichen.
Nun, wenn das Theater eigentlich eh so frühreif war und all diese Erkaltungseffekte so freudig vorexerziert hat, bevor sie in der Kultur richtig gegriffen haben, kann man sich eigentlich fragen, warum denn eigentlich heute eine Krise bestehen soll, warum das Theater heute, wie Sie, glaube ich richtig festgestellt haben, durch Popkultur herausgefordert ist? Gut, dazu gibt es eine einfache Antwort: manche anderen können das inzwischen besser als das Theater. Manche anderen Kulturmedien sind sozusagen Pop-adäquater. Allerdings – und insofern bin ich dankbar für das Vorreferat von Herrn Ahrens, weil er gewisser Weise eine Folie dessen geliefert hat, wogegen ich in der Folge argumentieren möchte – ich glaube, das Problem rührt nicht daher, dass die Popkultur das Gegenteil zu Hochkultur wäre. Es ist auch nicht so, dass man sagen könnte, die Hochkultur wäre ein Distinktionsmechanismus einer Klassengesellschaft, während der Pop offen und undistinktiv wäre. Jeder, jede, die irgendwie Kontakt zu Schulkindern haben, weiß davon ein Lied zu singen, wie distinktiv Popkultur ist. Was, du hast noch diese Turnschuhe, ich hab aber schon diese Turnschuhe. Das ist wesentlich distinktiver als alles, was Sie hier im Landestheater erleben können. Ich hab Wagner gesehen, du Mozart, na gut, ok...
Das betrifft auch natürlich Popmusik. Als ich in die Schule ging, haben meine Freunde und ich, die Pink Floyd gehört haben, immer gesagt zu den anderen, die auch mal so interessiert zugehört haben, Pink Floyd ist nichts für Brave. Wir haben die also ab-distinguiert.
Der Gegensatz zu Hochkultur ist nicht Popkultur sondern Trivialkultur und das ist nicht dasselbe. Dieser Gegensatz existiert immer, wenn eine Gesellschaft durch Klassenstrukturen geprägt ist.
Der Gegensatz von Popkultur aber ist nicht Hochkultur, sondern Klassik. Und das ist ein ganz anderes Funktionsprinzip, das hat nicht notwendigerweise mit der Existenz von Klassen zu tun, sondern mit einem Verhältnis zwischen coolen und hotten Mechanismen in einer Kultur, zwischen heißen und kalten Mechanismen in einer Kultur. Und diesen Gegensatz gibt es eben nur unter der Bedingung, dass eine Kultur sozusagen vorherrschend kalt, aber teilweise noch heiß ist, wie die unsere. Und das hat eine entscheidende Folge für die titelgebende Frage dieser Konferenz, was uns alle angeht und was denn das eigentlich sei und ob es das überhaupt gibt, was uns alle angeht. Pop und Klassik, als Funktionsprinzipien von Kultur, haben nämlich zwei völlig verschiedene Ausbreitungsmuster. Da der Pop beteiligend ist und einbezieht, egal ob man es will oder nicht, ist der Pop synchron. Er breitet sich innerhalb der Gegenwart aus. Die Klassik hingegen hat als Horizont immer die Zukunft. Darum ist die entscheidende Frage in der klassischen Kulturproduktion immer, ist das etwas das bleiben wird? Ist das jetzt eine Meilenstein der Kunstgeschichte? Wird dieser Text die Literaturgeschichte der nächsten Jahrhunderte verändern? Das ist eine typische klassische Frage, wobei die Kulturproduktion sozusagen ähnlich wie beim Pop auf eine große Zahl von Produzenten und Rezipienten abzielt, aber sie über die Zeit hinweg verteilt.
Man hat auch zu Beginn der Moderne, also der klassischen Avantgarden, sehr oft gesagt, das wird man vielleicht erst in 100 Jahren richtig würdigen können und das Publikum war oft erschüttert sozusagen diesen zündenden Funken einer Jahrhundertgeschichte miterleben zu können. James Joyce war sehr wenig Pop aber sofort Klassik. Man hat sofort das Gefühl gehabt, davon wird man in 100 Jahren noch reden. Während man also bei der Klassik immer die Frage stellt, ist das etwas, was bleibt? Fragt man beim Pop immer, ist es etwas, das ist, ist das angesagt? Ob das auch bleibt, ist für den Pop nicht relevant. Natürlich gibt es im Pop auch irgendwann dann Klassik, das ist aber sozusagen eine zweite Funktion, die man erst erkennen kann, nachdem man die Funktionsprinzipien unterschieden hat. Und umgekehrt gibt es natürlich auch den Fall, das Klassik manchmal auch Pop ist. Vielleicht war Mozart zu seiner Zeit auch Pop, aber er war auch Klassik. Man hat also, glaube ich, mit dieser Unterscheidung zwischen Pop und Klassik wieder die von Nietzsche getroffene Unterscheidung zwischen dem dionysischen und dem apollinischen gefunden. Das dionysische würde dem Pop entsprechen, es ist cool, das apollinische der Klassik – es ist heiß.
Während das Dionysische Kult produziert, produziert das Apollinische Kunst. Die Kunst setzt Distanz voraus, kritische Auseinandersetzung, Geltungsfragen über die Zeit hinweg, das kennt der Pop nicht, der produziert in erster Linie Kult. Da ist es wichtig, beteiligt zu sein, Formen der Beteiligung zu finden, die meistens detailarm bleiben. Ich darf das vielleicht mit einem kleinen persönlichen Detail illustrieren: ich habe eigentlich immer gedacht, als Wissenschaftler gehöre ich zur apollinischen Seite, versuche etwas zu produzieren, das irgendwie bleiben wird, das die Philosophie und die Kulturgeschichte sozusagen wenigsten über ein paar Jahrzehnte hinweg irgendwie beeinflussen könnte. Aber, nein, gestern hat mir meine Agentin eine interessante Mail geschrieben: Weißt du schon, dass in Berlin gerade eine Bar nach dir benannt wird. Du bist ein Popstar. Nun weiß ich weder, ob das mit der Bar stimmt, noch ob ich deswegen ein Popstar bin, aber wenn es so wäre, wäre es ein gutes Beispiel dafür, was Kult ist. Niemand, der diese Bar besucht, muss meine Texte kennen, muss sich damit kritisch abwägend auseinandergesetzt haben, es genügt vielleicht, dass er dort ein Bier trinkt und ihn jemand anderer auf mich zu prostet. Das wäre eine Form von niederschwelligen Kult, wie er typisch ist für das Dionysische.
Nun hat das allerdings, wie auch McLuhan mit seiner These von den Stammeskulturen und dem globalen Dorf in der kalten Gesellschaften und der explodierende Urbanität in den heißen Kulturen schon sehr gut klargelegt hat, auch unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung und unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Solidarität zur Folge.
Der Pop produziert immer Gemeinschaften, im Pop schließen sich immer Gleichgesinnte zusammen. In der Klassik entstehen immer Gesellschaften, die müssen nicht gleichgesinnt sein. Es können Leute ins Burgtheater in Wien gehen und völlig unterschiedliche Ansichten über das Regietheater haben oder über den Autor, sie können sich austauschen oder streiten oder gar nichts sagen. Das ist im Pop kaum möglich. Es hat wenig Sinn, zu einem Punk-Konzert zu gehen und dann zu sagen, naja, die Sängerin war heute aber indisponiert oder der Gitarrist gehört eigentlich auch ausgetauscht. Also diese kritische, distanzierte, testende Beobachtung ist hier eigentlich völlig fehl am Platz. Sie sind schon durch den dress code, der für diese bestimmte Art von Kultur und Kult herrscht, eigentlich mitgefangen und müssen den auch zum Ausdruck bringen. Das ist übrigens ein weiterer Grund weshalb ich glaube, das Pop im hohen Masse distinktiv und keineswegs offen und zugänglich ist. Wenn Sie zu einem Techno-Konzert gehen wollen, haben Sie wahrscheinlich massive Probleme mit dem dress code und werden sich 10x überlegen, welche Schuhe Sie dazu anziehen können und welche nicht. Das ist wesentlich komplizierter, als wenn Sie zu einer Aufführung des Landestheaters Linz gehen möchten. Das ist auch hier nicht mehr so, wie in den glorreichen Zeiten des Burgtheaters, dass man nicht reingelassen wurde, wenn man keine Krawatte trägt oder so was.
Das hat noch einmal eine sehr interessante Folge, die man psychoanalytisch im Bezug auf die Subjektivierungsformen untersuchen und betrachten kann oder in anderen Worten im Bezug auf das Wiedererkennen, das hier stattfindet, wenn Wiedererkennung, false reconaissance usw. ein grundlegender Mechanismus ästhetischer Erfahrung ist.
Der Pop bringt als sein Strukturprinzip Prominenz hervor und zwar den Star. Der Star ist ein Idol, aber er ist kein Ideal. Der Star ist das, was man nach der Unterscheidung Freuds zwischen dem Ideal-Ich und dem Ich-Ideal auf die Seite des Ideal-Ich rechnen muss. Der Star ist derselbe, wie sein Fan, nur in einer idealisierten, wunschgerechten Aufbereitung. Er signalisiert dem Fan aber, eigentlich dasselbe zu sein, wie der Fan. Der Fan fühlt sich im Erlebnis mit seinem Star eins mit dem Star. Das ist typisch für das Ideal-ich. Die Klassik produziert etwas ganz anderes, nämlich so etwas wie eine Beobachtungsinstanz, die sehr weit weg projiziert wird. Zukünftige Jahrhunderte werden hierüber urteilen, man versucht auf sich selbst herunter zu blicken aus der Distanz dieser zukünftigen Jahrhunderte. Das ist eigentlich genau das, was Freud das Ich-Ideal nennt. Das Ich-Ideal ist immer sozusagen ein Blick-Ideal, ein Blick, von dem aus wir uns betrachten müssen, um uns die Frage stellen zu können, ob wir liebenswert sind oder nicht. In anderen Worten auch, Freud identifiziert das manchmal, es ist ein Über-Ich, das bestimmte Anforderungen an uns stellt. Umgekehrt stellen wir aber auch bestimmte Anforderungen und deshalb ist die Klassik ihrem Wesen nach kritisch. Wir untersuchen auch, ob die Vorführenden jetzt unserem Ideal von ihnen entsprochen haben. Sowohl die Produzierenden als auch die Rezipierenden sind normativen Forderungen diesen Ideals unterworfen. Der Pop sozusagen bringt eine bestimmte narzisstische Wunscherfüllung mit sich, er stellt die Identität des Fans mit dem Idol als erfüllt dar. Die Klassik hingegen stresst die Leute. Sie stellt die Leute unter Anforderungen: haben Sie das richtig verstanden? Haben Sie das so verstanden, wie es in Jahrhunderten verstanden werden wird usw.
Das hat glaube ich, und damit komme ich zu meine letzten politischen Punkt, sehr entscheidende Folgerungen, nicht nur dafür, was das Theater derzeit sein kann, in der Auseinandersetzung mit Formen des Pop, sondern auch in Bezug auf politische Formen aktueller Vergesellschaftung. Denn wenn es etwas gibt, was postmoderne Ideologie, als die vorherrschende Ideologie neoliberaler Tendenzen in der Gesellschaft betrifft – also ich würde sagen, die Postmoderne ist genau die Ideologie, die den Neoliberalismus begleitet hat, d. h. die Beraubung westlicher Gesellschaften vom Großteil des bis dahin gemeinschaftlich geteilten Wohllebens und Wohlstandes – wenn also die postmoderne Ideologie eine Position hat über Formen gesellschaftlicher Solidarität oder über die Frage, was uns denn alle angeht, dann ist es glaube ich das, dass das, was alle angeht, immer das gemeinschaftliche wäre. Also wenn wir solidarisch sind, dann sind wir doch solidarisch in einer Community, oder nicht. Wir haben irgendwas gemeinsam, wir lieben dieselbe Band oder wir tragen dieselben Marken Labels, weil die garantiert nicht von irgendwelchen Kindern oder Sklaven genäht wurden, oder wir investieren in dieselben Umweltfonds oder so etwas. Diese Solidarität ist also die Solidarität der Gemeinschaft. In Gemeinschaften sind nur Mitglieder solidarisch, die irgendwas miteinander gemein haben, irgendein Merkmal, z.B. dass sie alle verwandt sind, die Familie ist ein typisches Beispiel für eine gemeinschaftliche Form von Solidarität. Genauso in der Postmoderne, wo darum eben die Frage nach der Identität so entscheidend wird, alle beschnuppern einander, hast du die selbe Identität wie ich oder nicht und dann separiert man sich nach allen Kriterien, die da nur möglich sind, nach Musikgeschmack, sexueller Orientierung, Identität usw. Und irgendwann sind dann alle gemeinschaftlich gut separiert und sind nur noch mit den gleichgeorteten und gleich orientierten beisammen. Es treffen sich dann, wie Max Goldt sagen würde, nur noch alle schwulen schwererziehbaren Schwager aus der Schweiz.
Die Gemeinschaft ist das vorherrschende Organisationsmuster von Solidarität in der Postmoderne und die Postmoderne versucht uns auch glauben zu machen, dass es gar nichts anderes gäbe. Viele glauben das heute schon. Also sehr oft, wenn ich Studentenarbeiten in Architekturklassen, wo ich manchmal eingeladen bin, beobachte, an vielen Universitäten Europas, wenn die oft so beliebte Themen haben, wie die Stadt der Zukunft, dann bauen die so ein großes Gebäude, in dem lauter 25jährige, die keine Eltern und keine Kinder haben, leben und arbeiten. Das zeigt aber sehr deutlich, dass die eigentlich nur einen Begriff von gemeinschaftlicher Solidarität kennen und keinen Begriff von gesellschaftlicher. Denen fällt gar nicht auf, dass es auch andere Altersklassen gibt, dass vielleicht ein Unterschied zwischen Arbeit und anderem Leben auch wünschenswert sein könnte usw. Das ist übrigens die entscheidende und auch ausdrücklich ausgesprochene Position des Neoliberalismus, Margret Thatcher hat das schon am Beginn ihrer Regierungszeit mit dankenswerter Deutlichkeit gesagt. Sie hat gesagt, die Gesellschaft gibt es nicht. Das war eine entscheidende Kampfansage, es gibt gar keine Form von Solidarität, von Menschen, die kein Merkmal gemeinsam haben. Und das ist glaube ich der entscheidende Punkt, an dem man politisch heute ansetzen muss.
Man muss in Erinnerung rufen, dass es sehr wohl Formen von Solidarität geben kann, die nicht daran gebunden ist, dass wir irgendein Merkmal teilen. Wir müssen weder dieselbe Musik hören noch dieselbe sexuelle Orientierung haben noch sonst irgendein Merkmal teilen um solidarisch sein zu können. Andernfalls reduziert sich unser politisches Engagement immer auf das Unbedeutende, dann werden wir z.B. Hedgefonds niemals stoppen, weil das nicht in irgendeine Identitätsfrage hineinfällt. Zugleich rührt hier, etwas niederstufiger, glaube ich, die Chance des Theaters in der aktuellen Popkrise her, wie man sie nennen könnte.
Denn das Theater ist nicht nur ein mimetisches Nachahmungsmedium, es ist zugleich damit auch, was Nachahmung immer an sich hat, gewisser Weise ein Distanzierungsmedium. Mir fällt hier manchmal der Satz von Blaise Pascal ein, dem französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, der geschrieben hat: zwei Gesichter, von denen keines für sich genommen komisch ist, wirken durch ihre Ähnlichkeit lächerlich. Es sieht dann immer so aus, wie wenn das eine Gesicht schon die Parodie des anderen wäre. Diese Form der Distanzierungsleistung bringt Theater immer mit sich, man kann das auch sehr gut im klinischen Bereich der Psychoanalyse nachvollziehen. Sigmund Freud hat das in seiner Studie Jenseits des Lustprinzips vorgeführt, dass Theaterspielen, nachspielen bestimmter überbeeindruckender Situationen, schmerzhafter, schreckhafter Situationen immer auch eine Form der Distanzierung, der Bemeisterung dieser Situationen darstellt. Darum ist eben das Theater glaube ich nicht nur ein mimetisches Nachahmungsmedium, sondern auch ein Distanzierungsmedium und ein Reflektionsmedium.
Wenn Theater also auf Popkultur Bezug nimmt oder sie integriert, kann es sehr wohl sein, dass das Theater selbst dadurch zum Pop wird, wie es glaub ich Rene Pollesch in Berlin sehr schön gelungen ist. Aber das heißt nicht, dass es nicht zugleich auch eine Art Meta-Pop sein könnte, ein Distanzierungsmedium, das vielleicht auch größere Solidaritäten ermöglicht, also nur die gemeinschaftlichen Solidaritäten des Pop. Um nur ein Beispiel zu nennen, wie diese Meta-Pop-Funktion funktionieren könnte, habe ich an ein Stück von Rene Pollesch gedacht, das wie immer auf diese Popformen von Theater oder von theatralischer Wirklichkeit Bezug nimmt. Es war schon in der Presse bekannt, dass Tobias Moretti vorgesehen war für diesen Hitlerfilm, als Darsteller von Adolf Hitler. Und Pollesch hat nun, genial, glaube ich, phantasmatisch diese Szene sich ausgemalt, das Phantasma ist sozusagen immer das Ausmalen von Szenen, die es nicht gab oder bei denen man grundsätzlich nicht anwesend sein kann. Aber er hat sich das wunderbar ausgemalt, wie ist das jetzt, wenn dieses Produktionsteam zusammensitzt und sagt ok, jetzt haben wir den Moretti für den Hitler gecastet, jetzt brauchen wir noch einen Hund, hat irgendwer einen Hund und was für einen nehmen wir. Und dann hat irgendjemand gesagt, naja, Hitler hatte einen Schäferhund, nehmen wir einen Schäferhund und dann haben die aufgeschrien, nein, um Gottes Willen, der Hitler darf keinen Schäferhund haben, weil sonst glauben alle Zuschauer das ist der Kommissar Rex. Und dann kommt heraus, dass Hitler mit einem Pudel auftreten muss oder so. Und das ist, also nur in einer Miniatur, glaube ich, ein Beispiel davon, wie das Theater als Distanzierungsmedium zur Popkultur, selber Pop sein und doch darüber reflektieren und etwas anderes eröffnen kann, ohne damit die Unterscheidung zwischen distinktiver und nicht-distinktiver Kultur überhaupt zu berühren.
Ich glaube, was das Theater damit leisten kann, ist nicht nur ein ästhetischer Effekt von beträchtlicher Größe und Heiterkeit, sondern es hält damit auch eine politische Erinnerung wach. Ich glaube, es sagt uns damit nämlich, dass es jenseits der Gemeinschaft noch andere und wahrscheinlich egalitärer Formen der Solidarität gibt und das die möglich sind, nämlich Formen der Gesellschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.