„Es herrscht ein strukturelles Unvermögen der Politik“

Dienstag, 20. Dezember 2016

Der Pionier der österreichischen Politikwissenschaft Anton Pelinka betrachtet die politische Gegenwart in historischen Zeithorizonten. Ein über mehrere Generationen hinausweisender Blick eröffne keinen Anlass zu Pessimismus, denn Europa habe bereits viel erreicht, so der Experte. Silvana Steinbacher hat mit Anton Pelinka gesprochen.

Sie stellen in Ihrem im Vorjahr erschienenen Buch Die unheilige Allianz fest, dass die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Gewissheit durch die liberale Demokratie nicht befriedigt werden konnte. Eine – oft auch – diffuse Sehnsucht spürt man aber bei sehr vielen Menschen. Wodurch hat sich dieses Verlangen entwickelt?  

Dieses Verlangen hat es immer gegeben, aber es wurde viel schneller befriedigt, als dies heute der Fall ist. Früher gab es noch viel eindeutigere Antworten auf die Verunsicherung, die viele Menschen spüren.

Existieren weniger verbindliche Werte?

Die Werte in unserer Gesellschaft sind diffus geworden und nicht mehr verbindlich, auch die Religion gibt vielen keine Antwort mehr. Vieles, das lange als unanfechtbar galt, scheint sich aufzulösen. Es ist nicht mehr von vornherein bestimmt, zu welcher Klasse oder Gruppe man gehört. Es gibt immer weniger Arbeiter, immer weniger Kirchgänger, die Gewerkschafter waren eine klar definierte Kerngruppe. Früher war die Bildung auch Ausdruck einer bestimmten Klasse.
Rund um die 2000er-Jahrgänge fand eine Bildungsexplosion statt. Wenn wir uns heute, um ein Beispiel zu nennen, den Bauernsohn aus dem Zillertal ansehen, so hat er alle Chancen. Eine Welt, in der alles möglich zu sein scheint, birgt sehr viel Freiheit, aber  natürlich auch Irritationen in sich.

Das heißt, auch wenn wir Österreich betrachten, dass Suchende derzeit kaum auf eine Heimat in der Politik hoffen können.

Wohl kaum. Denn die Parteien sind ja selbst verunsichert. Die SPÖ und die ÖVP sind Altparteien, das heißt ihre Wählerinnen und Wähler sind zum überwiegenden Teil schon älter. Die Parteien sind auch, wie schon erwähnt, in die ökonomische Globalisierung eingegliedert, es bleibt ihnen wenig Gestaltungsmöglichkeit.

Ein politisches Dauerthema der vergangenen Jahre ist die Zukunft der EU.
Die EU sei, so behaupten Sie, „ein verbindendes Feindbild“ von Gruppierungen, die extrem rechts oder extrem links stehen. Ist die EU in ihrer jetzigen Form überhaupt weiter vorstellbar oder sogar unentbehrlich?


Die EU ist ein voll entwickelter politischer Akteur. Es kann künftig nur eine europäische Antwort geben, sonst wären alle Länder auf sich gestellt, Europa würde Schaden nehmen. Ich möchte ein Beispiel nennen: Seit Anfang dieses Jahres wird an der Öresundbrücke, die Kopenhagen mit Malmö, verbindet, kontrolliert. Zehntausende Menschen pendeln täglich zwischen den beiden Städten. Selbst wenn Flüchtlinge, die illegal einreisen wollen, hier aufgehalten werden, ist das keine Lösung. Sie müssen vorher gestoppt werden. Es muss EU-weit eine einheitliche Migrationsnorm geben, das halte ich für sehr entscheidend.


Sie haben die Flüchtlingsthematik angesprochen. Auch in Österreich werden wir mit dieser Problemstellung konfrontiert, die, so würde ich es einschätzen, auch zur Polarisierung der Gesellschaft beigetragen hat. Sie waren österreichischer Vertreter in der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, und auch viele Jahre wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Konfliktforschung in Wien. Welche Strategien der Konfliktbewältigung würden Sie hier als notwendig erachten?

Es ist abzusehen, dass der Krieg in Syrien noch einige Zeit dauern wird. Eigentlich gibt es nur zwei Lösungen. Erstens: Barrieren errichten und die Flüchtlinge abweisen. Zweitens, und das ist die europäische Antwort: Barrieren errichten, diese betonen und dann rational damit umgehen. Derzeit lässt man Italien und Griechenland alleine, und Deutschland sollte alle Flüchtlinge nehmen. Es kann aber nur eine Lösung geben, die Europa gemeinsam trägt. Ich erhoffe eine eindeutige Politik seitens der EU und den Konsens, die Europäische Grenzschutzagentur Frontex zu stärken, mit mehr Befugnissen auszustatten, das ist ja schon ansatzweise passiert. Aber ich bin vorsichtig zuversichtlich. Europa hat viel erreicht, es war noch nie so friedlich, das sollte man bei allen Konflikten und Problemen nicht vergessen. Es gab seit 1945 innerhalb der EU keinen Krieg. Mein Nichtpessimismus, nicht Optimismus, baut darauf, dass die EU ökonomische Vernunft zeigt, vor allem durch die Parteien der Mitte.

Ich möchte zwei aktuelle Stücke des Linzer Landestheaters nennen. Das verschollen geglaubte und erst vor einem Jahr aufgetauchte Stück Niemand von Ödön von Horváth thematisiert die Geschichte des geldgierigen Lehmann, der in der Zeit der Weltwirtschaftskrise die Bewohner seines Mietshauses ausbeutet. Und #1984 ist eine multimediale Versuchsanordnung für gläserne Bürger, die untersucht, inwiefern die Visionen George Orwells bereits Wirklichkeit geworden sind. Kann, um bei Ihrer Forderung eines tiefen, strategischen und diskursiven Denkens anzuknüpfen, Ihrer Einschätzung nach auch das Theater Gedankenprozesse in Gang setzen?


Ja das glaube ich schon, und das ist auch sehr wichtig. 1984 mag in Nordkorea existieren, ansonsten hat es sich nicht verwirklicht.

Die Thematik des Stückes Niemand ist nach wie vor aktuell.

Ja ich gehe davon aus, dass die Gier und der Kapitalismus gesiegt haben. Die Dynamik des Kapitalismus baut auf Eigeninteresse. Um es frei nach Karl Marx  zu formulieren: Wenn die Idee dem Interesse begegnet, hat die Idee den Kürzeren gezogen. Insofern hat der Kapitalismus gesiegt, weil es das Interesse gibt. Ich sehe noch kein neues System. Das muss nicht für die Ewigkeit gelten, das kann übermorgen schon anders sein.

Gibt es auch Genres oder Stoffe, die Sie am Theater besonders interessieren. Ist das Theater für Sie möglicherweise ein Ort der Phantasie, der Sie für eine kurze Zeit von der sehr realen Welt der Politik in eine neue eintauchen lässt?

Ja, auf jeden Fall. Ich bin allerdings in meiner Jugend viel öfter und regelmäßiger ins Theater gegangen als heute, aber nur aus dem einfachen Grund, weil ich heute nicht mehr so gut höre wie damals. Ich bin viel ins Volkstheater und ins Burgtheater und auch in andere Theater gegangen. Ich habe damals auch den Brechtboykott hautnah miterlebt (Anm.:  Kampagne zwischen 1953 und 1963; zu dieser Zeit führte kein etabliertes Theater Brecht auf, Initiatoren waren die Publizisten Hans Weigel und Friedrich Torberg und der damalige Burgtheaterdirektor Ernst Haeussermann.) Was Brechts künstlerische Qualität betrifft, muss man gar nicht diskutieren, das ist unbestritten, politisch liegt er mir nicht, auch wie er manches auf die Bühne gebracht hat. Was ich aber wirklich liebe, ist sein Stück Der kaukasische Kreidekreis,es ist für mich ein Symbol der Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Figur des Dorfschreibers Azdak ist in diesem Stück geradezu eine dialektische Meisterleistung.
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Anton Pelinka

ist Professor für Politikwissenschaften und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest und hat sich als Politikexperte international einen Namen gemacht. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Demokratietheorie, Politisches System und Konfliktforschung. Pelinka hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, so etwa Sozialdemokratie in Europa: Macht ohne Grundsätze oder Grundsätze ohne Macht?, 1980,  Die unheilige Allianz: Die rechten und die linken Extremisten gegen Europa, 2015.

Fotos: Herwig Prammer