Rechtsradikales Denken ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Mittwoch, 28. November 2018


Rechtsradikale Gruppierungen befinden sich nicht mehr am Rand der Gesellschaft, die Mitte hat sich zu ihnen verschoben, sagt Willi Mernyi im Gespräch mit Silvana Steinbacher.

Herr Mernyi, ich möchte mit dem Motto dieser Spielzeit Welt aus den Fugen beginnen. Ursprünglich verstand man unter einer Fuge die Verbindungsstelle, den schmale Raum zwischen zwei Teilen, beispielsweise eines Bauwerks. Wenn wir metaphorisch beim Bauwerk als Sinnbild für unsere Welt bleiben: Welche Verbindungsstelle hat sich Ihrer Meinung nach gelockert oder gelöst?

Ich beobachte innerhalb unserer Gesellschaft teils auch eine Umkehrung der Werte. Sie führt so weit, dass sogar jene, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten, als Kriminelle beschimpft werden und der Begriff Gutmensch zum Schimpfwort degradiert wurde. Das ist eine Entwicklung, bei der ich das Gefühl habe, hier ist einiges aus den Fugen geraten. Abgesehen davon, dass ich immer noch ein hohes Potential an Solidarität, Empathie und Mitmenschlichkeit beobachte.

Ich möchte mit Ihrer Funktion als Vorsitzender des Mauthausen Komitees beginnen und mit deren Beschluss, FPÖ-Vertreter bei der Gedenkfeier im Mai dieses Jahres nicht einzuladen. Darüber wurde teils kontroversiell diskutiert. Können Sie die Gegenargumente nachvollziehen?

Nein, das kann ich nicht. Wir haben erst kürzlich demokratiefeindliche Untergriffe und Drohungen von FPÖ-Politikern dokumentiert. Es kann wirklich niemand von uns verlangen, dass beispielsweise ein Herr Vilimsky (Anm.: Generalsekretär der FPÖ) bei unserer Gedenkfeier eine Rede hält, der erst ein paar Tage davor bei der Front National gesprochen hat. Das wäre ja ungefähr so, als würde er vormittags beim Ku-Klux-Klan reden und nachmittags bei Amnesty International.

In der Zeitschrift Aula wurden die ehemaligen Häftlinge als Landplage und Massenmörder bezeichnet, eine Einladung wäre also den Häftlingen gegenüber ein Affront. Als Besucher können FPÖ-Politiker jederzeit kommen, aber nicht in offizieller Funktion. Dass die FPÖ nicht eingeladen wurde, ist auch ein Beschluss der ehemaligen Häftlinge, auch die katholische Kirche steht dahinter, außerdem haben wir die FPÖ noch nie eingeladen.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie in Ihren Reden sehr konkrete, plastische Beispiele wählen. Ich nehme an, das gilt auch für die Führungen durch die Gedenkstätte?

Auf alle Fälle. Wenn wir einer Gruppe von Jugendlichen berichten, dass sechs Millionen Juden ums Leben gekommen sind, dann bleibt diese Zahl für sie zu wenig nachvollziehbar. Wir versuchen die einzelnen Zielgruppen in ihrer Lebensrealität zu treffen. Wenn ich einer Gruppe von Maurern bei der Todesstiege erkläre, wie die Häftlinge hier völlig unterernährt Granitblöcke hochschleppen mussten, kann ich sie interessieren. Wenn ich Frauen erzähle, dass die weiblichen Häftlinge im ehemaligen Bordell arbeiten mussten und dafür von der SS als Huren angesehen wurden, aber auch von ihren Mithäftlingen gehasst wurden, weil sie die Liebesdienerinnen der Täter waren, dann kann ich diese Gruppe wahrscheinlich berühren.

Sie führen öfter Juden und Muslime gemeinsam durch die Gedenkstätte, ist das Ihrer Meinung nach eine zielführende Maßnahme?

Manchmal geht’s auf, manchmal bleiben die beiden unter sich, und es gibt natürlich auch Sprachbarrieren zwischen ihnen. Einige Moslems wissen auch nichts vom Holocaust oder sagen sogar, was geht uns das an. Erst wenn man ihnen vor Augen führt, dass hier auch Moslems – es waren nicht sehr viele – ermordet worden sind, spürt man ihr Interesse.

Welche Entwicklungen beunruhigen Sie derzeit in Ihrem Alltag besonders?

Das ist unter anderem die europaweite Tendenz zum Rechtsextremismus. Sie müssen sich nur die Ideologie mancher Innenminister vor Augen führen, vor allem ist es so, dass rechtsradikales Denken salonfähig wird.

In diesem Zusammenhang möchte ich das Phänomen der Identitären betonen, da hat sich ein echter Wandel vollzogen. Das sind keine Loser mehr, keine Neonazis, die betrunken irgendwo rumhängen. Dieses Bild wirkte ja auch auf Frauen nicht gerade als Aufreißer-Programm. Die Identitären sind jung, meist fesch, tragen coole Kleidung, haben einen Job oder studieren. Sie befinden sich nicht mehr am Rand der Gesellschaft, nein: Im Kampf um die Mitte haben sie die Mitte zu sich verschoben. Sie sind in der Mitte der Jugendkultur angekommen. Diese Entwicklung sollte uns zu denken geben.


Welche Strategien sehen Sie gegen diese Entwicklung?

Eine Strategie ist meiner Meinung nach die Begegnung. Ich gehe mit Betriebsräten in Unterkünfte von Asylwerbern, vor allem mit solchen, in deren Firma viele Ausländer arbeiten. Das sind Aha-Erlebnisse für die Betriebsräte, dadurch werden die Asylwerber Menschen mit Gesichtern und Namen. Eine zweite Strategie, meine ich, wäre eine politische Linie, die nicht Angst schürt und vor allem sozial schwache Menschen nicht noch mehr beunruhigt. Davon sind wir derzeit leider weit entfernt.

Sie haben Ende Juni eine Demonstration in Wien mit mehr als 100.000 Teilnehmenden gegen den 12-Stunden-Tag organisiert. Sie sind offenbar von der Kraft jener überzeugt, die sich gemeinsam auflehnen?

Ja, es war super. Als die Regierung aber zuerst die Teilnehmerzahl auf 25.000 geschätzt hat, da haben schon einige gesagt, sind die komplett deppert. Das muss man sich einmal vorstellen, da wird die Teilnehmerzahl dreist auf ein Viertel runtergefahren. Da frag ich mich natürlich schon, was erlaubt sich die Regierung sonst noch, wovon wir nichts wissen. Da geht’s ja nicht um einen Kindergeburtstag, natürlich denk ich mir da meinen Teil.

Ich möchte noch bei der Diskussion um die Arbeitszeit bleiben, sehen Sie die Fuge der Sozialpartnerschaft in Gefahr?

Es wurde schließlich seitens der Regierung die Gewerkschaft und die Arbeiterkammer in Frage gestellt, aber es wehren sich viele Menschen. Auch bei der Demo gegen den 12-Stunden-Tag waren viele FPÖ-Wähler dabei, die gemeint haben, die Partei haben wir zwar gewählt, aber nicht den 12-Stunden-Tag.

Es werden Errungenschaften, die hart erkämpft wurden, in Frage gestellt. Die 60-Stunden-Woche ist Retropolitik, da müssen wir nicht lange diskutieren. Wir sind der Meinung, in vier Tagen sollte die Wochen-Arbeitszeit erledigt sein, aber nicht nach dem Modell 4 mal 12. Ich bin dahingehend nicht pessimistisch, es wehren sich viele. Es gibt auch Firmenchefs, die dagegen sind, auch weil sie sagen, was hab ich davon? Nach acht Stunden sind meine Mitarbeiter müde und es passieren Fehler.

Das Linzer Landestheater zeigt in dem Stück Heilig Abend eine Philosophin, die verdächtigt wird, einen terroristischen Anschlag umzusetzen, und mit dem Stück Dogville eine Frau, die sich auf der Flucht befindet. Die Frau wird in einem Dorf aufgenommen, als jedoch die Polizei nach der Frau fahndet, kippt die Stimmung. Rechnen Sie Stücke politischen Inhalts ebenfalls zu politischen Handlungen?

Ja, natürlich sind das auch politische Handlungen. Ich bin ein Fan des Volkstheaters und staune immer wieder, wie es Schauspieler gelingt, so nach mir zu greifen, bewundernswert. Wenn ich im Theater sitze und das Publikum applaudiert nach einem Stück, das auch mich berührt hat, habe ich das Gefühl, so wie ich denken und empfinden jetzt viele. Das setzt Energien frei!

Ich möchte gegen Ende zum Beginn unseres Gesprächs zurückkehren und wieder auf das Motto dieser Spielzeit Welt aus den Fugen zu sprechen kommen. Was lässt Sie von heute aus gesehen hoffen?

In erster Linie junge Menschen mit Zivilcourage. Wenn wir in praktischen Beispielen vermitteln, dass Zivilcourage bereits im Kleinen, im Alltag beginnen kann, können wir viel bewirken. Darauf setze ich meine Hoffnungen.

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WILLI MERNYI

Willi Mernyi ist 1968 in Wien geboren und engagiert sich seit seinem 17. Lebensjahr für soziale Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung. Ende Juni hat er in Wien eine Demonstration gegen den 12-Stunden-Tag organisiert und konnte dafür mehr als 100.000 Menschen mobilisieren.

Fotos: Herwig Prammer